Inkontinenz vorbeugen und behandeln

Auch über Harninkontinenz kann ganz offen gesprochen werden

Spoiler

  • Die häufigste Form der Harninkontinenz ist die Belastungsinkontinenz. Ihr liegt eine schwache Beckenbodenmuskulatur zugrunde.
  • Die Dranginkontinenz kann viele Ursachen haben. Hierzu gehören Blasenentzündung, Stoffwechselstörungen und hormonelle Veränderungen.
  • Inkontinenz sollte nicht tabuisiert, sondern gegenüber dem Arzt angesprochen werden. Nur so kann Abhilfe geschaffen werden.

Aus Angst vor peinlichen Zwischenfällen ziehen sich Betroffene häufig aus ihrem gesellschaftlichen Leben zurück. Harninkontinenz ist nicht zuletzt auch eine soziale Belastung. Marlies von Siebenthal, Fachfrau für Blasen- und Intimbeschwerden am Blasen- und Beckenbodenzentrum der Frauenklinik des Kantonsspitals Frauenfeld, appelliert: «Ansprechen und behandeln lassen! Es gibt zum Teil geniale Sofortlösungen, die Inkontinenz in den Griff zu bekommen.»

Belastungsinkontinenz: schwacher Beckenboden

Wenn der Urin während körperlicher Belastung wie Lachen, Tragen von Lasten, Sport, Niesen oder Husten und sogar beim Treppensteigen nicht mehr gehalten werden kann, liegt eine Belastungsinkontinenz vor. Sie gehört zu den häufigsten Formen der weiblichen Harninkontinenz.

Von Blasenschwäche kann hierbei allerdings nur bedingt die Rede sein, wie Marlies von Siebenthal erklärt. Denn die Belastungsinkontinenz lässt sich in erster Linie auf eine schwache Beckenbodenmuskulatur zurückführen und nicht auf eine geschwächte Blase. «Verlieren Bindegewebe und Beckenbodenmuskulatur an Spannkraft, kann dies zu einer Belastungsinkontinenz oder zu einer Senkung der vom Beckenboden gehaltenen Organe führen. Eine derartige Senkung führt aber nicht zwingend zu einer Belastungsinkontinenz», weiss die Fachfrau für Blasen- und Intimbeschwerden. «Denn eine ausgeprägte Senkung kann auch zu einer Dranginkontinenz und zu erhöhtem Restharn mit daraus resultierender Blasenentzündung führen», ergänzt die Expertin.

Wenn der Beckenboden schlapp macht

Ursachen für die Schwächung der Beckenbodenmuskulatur und des Bindegewebes sind natürliche Alterungsprozesse, Schwangerschaft und Entbindung, Sportarten wie Joggen, Hüpfen oder Trampolinspringen sowie chronischer Reizhusten, etwa bei Heuschnupfen, Asthma oder als Folge von starkem Rauchen.

Aber auch häufiges Pressen bei chronischer Verstopfung oder starkes Übergewicht belastet den Beckenboden zusätzlich.

Inkontinenz durch Training vorbeugen

Wenn Blase und Harnröhre ihre Position aufgrund eines geschwächten Beckenbodens verändern, kann dies den Blasenschliessmuskel in seiner Funktion einschränken. Dann reicht im Extremfall schon ein leichtes Husten oder eine rasche Bewegung für den unkontrollierten Urinabgang.

«Vorbeugen ist besser als heilen», sagt Frau von Siebenthal. «Vorsorge mit adäquatem Beckenbodentraining kann spätere Probleme im Alter abwenden oder hinauszögern». Für eine erfolgreiche individuelle Behandlung ist eine genaue Diagnostik und Ursachenanalyse unumgänglich.

Dranginkontinenz: Jetzt aber schnell!

Auch die Dranginkontinenz ist bei Frauen weit verbreitet. Im Gegensatz zur Belastungsinkontinenz ist die Ursache dieser Form der Inkontinenz bei der Blase selbst und nicht bei der Beckenbodenmuskulatur zu finden. Typisch für die Dranginkontinenz ist der namensgebende, überfallartige Harndrang, der es unmöglich macht, die Toilette noch rechtzeitig zu erreichen.

Häufige Ursachen sind eine zu geringe Flüssigkeitsaufnahme, Reizgetränke, wiederholt verfrühte Blasenentleerungen, chronische Vaginalhaut- und Blasenentzündungen, Hormonmangel, Stoffwechselerkrankungen (z. B. Diabetes) sowie neurologische Erkrankungen (etwa Multiple Sklerose oder Parkinson). «Mit zunehmendem Alter kann ein lokaler Hormonmangel – meist schon vor der Menopause – eine Ursache der Dranginkontinenz sein. Auch immer wiederkehrende Blasenentzündungen und Intimbeschwerden führen zusätzlich zu einer gereizten Blase bis hin zu einer Dranginkontinenz», fügt die Expertin hinzu. Die Ursache einer Dranginkontinenz wird bei einer genauen Abklärung mit Blasenspiegelung ermittelt. Danach kann eine geeignete Therapie eingeleitet werden.

Unterschiedlichen Blasenbeschwerden

Bei unausgeglichenem Hormonhaushalt in der Menopause oder bei bestimmten Verhütungsmethoden kann es zum Abbau der Schleimhaut in der Scheide, der Blase und der Harnröhre kommen. «Dünne Schleimhäute können zu Juckreiz und Brennen führen», erklärt Marlies von Siebenthal. «Der Juckreiz und das Brennen im Intimbereich wird gern als Symptom eines Scheidenpilz fehlgedeutet», warnt die Expertin. «Hier lohnt sich eine genaue Untersuchung. Eine dünne Schleimhaut infolge eines Hormonmangels begünstigt wiederkehrende Blasenentzündungen, Pilzinfektionen, Reizblasenbeschwerden und Dranginkontinenz und kann in der Folge auch zu einer Belastungsinkontinenz oder einer Kombination beider Inkontinenzarten (Mischharninkontinenz) führen.»

Die Fachfrau rät allen Betroffenen, das Thema gegenüber ihrem Arzt oder anderen medizinischen Fachpersonen unbedingt anzusprechen: «Natürlich gibt es eine hohe Hemmschwelle. Diese wäre sicherlich auch geringer, wenn mehr Fachkräfte bei gynäkologischen und Routineuntersuchungen explizit nachfragen würden», mahnt sie an. «Leider machen viele medizinische Fachkräfte Harninkontinenz durch ihr Schweigen ebenfalls zum Tabuthema.»

Viele Therapien bei Inkontinenz möglich

Harninkontinenz lässt sich inzwischen gut therapieren. Mit Einlagen und speziellen Slips können kleine Malheurs vermieden werden. «Als geniale Soforthilfe können unterschiedliche Pessarmodelle verwendet werden», meint Frau von Siebenthal. «Pessare sind Hilfsmittel, die in die Scheide eingeführt werden und so durch eine mechanische Unterstützung der Harnröhre das unkontrollierte Öffnen derselben verhindern.» Langfristig ist jedoch ein individuelles, der exakten Diagnose angepasstes Beckenbodentraining für jede Form der Harninkontinenz unverzichtbar. Lokal angewendete Hormon-Zäpfchen oder -Cremen gleichen den Hormonmangel aus und die Schleimhaut wird wieder aufgebaut. Zudem verbessert eine schonende Intimpflege mit pH-neutralen, rückfettenden Waschlotionen und die Anwendung von Fettcremen die Schleimhäute. Dringend rät Frau von Siebenthal zur ausreichenden Flüssigkeitszufuhr: «Viele Patientinnen denken, durch weniger Trinken sei das Problem gelöst. Das Gegenteil ist der Fall: Die Inkontinenz verstärkt sich, Entzündungs- und Reizblasensymptome nehmen zu.»

Weiterführende Therapien

Sind die konservativen Behandlungen ausgeschöpft und die Patientin nicht beschwerdefrei, kann die Belastungsinkontinenz mit einem kleinen Eingriff, zum Beispiel einem TVT-Band oder der Injektion eines Hydrogels (Bulkamid) in die Harnröhre, behandelt werden. Bei der Dranginkontinenz können blasenentspannende Medikamente oder auch zusätzlich Blaseninstillationen bis hin zur Injektionen von Botulinumtoxin (Botox) in die Blasenwand zum Einsatz kommen.

Inkontinenz im Alltag vorbeugen

«Ein bewusster Umgang mit der Beckenbodenmuskulatur lohnt sich», meint Frau von Siebenthal. «Frühzeitiges und regelmässiges Training der Beckenbodenmuskulatur ist eine gute Vorsorge. Eine tägliche Trinkmenge von zwei Litern sollte eingehalten werden, vor allem in Form von Wasser. Reizgetränke wie Kaffee, Cola, Früchte- und Schwarztees, Zitrussäfte, aber auch starkes Rauchen fördern den Harndrang, führen zu verfrühter Blasenentleerung und konditionieren so eine kleine Blasenkapazität.»

Immer wieder lohnt es sich auch, die Anzahl der Toilettengänge zu hinterfragen. «‹Geh lieber vorher noch einmal auf die Toilette›: Diese gutgemeinte Aufforderung an Kinder wird auch von vielen Älteren beherzigt, aber sie ist nicht förderlich», weiss die Expertin. «Sie hilft nicht, die Blasenkapazität auszuschöpfen, sondern trainiert eine schwache Blase an und provoziert damit eine Dranginkontinenz.»

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