Wenn Jugendliche an Suizid denken

«Live for tomorrow» – wieso dieses Motto helfen kann

Jugendliche Suizid: Ein trauriges Mädchen lehnt sich mit dem Rücken an einen Zaun.

Spoiler

  • Gerade im sensiblen Lebensabschnitt der Jugend können Krisen Suizid-Gedanken auslösen.
  • Schulverweigerung und sozialer Rückzug sind Alarmzeichen. Angehörige und Bezugspersonen sollten frühzeitig reagieren.
  • Bereits ein Anruf bei einem Hilfsdienst (siehe Kasten unten), ein Gespräch mit Eltern, Lehrern oder Freunden, kann Jugendlichen helfen, den verzweifelten Augenblick mit Gedanken an Suizid zu überwinden und eine Affekthandlung verhindern.

Der Ärztin für Neurologie, Nervenheilkunde und Psychotherapie Dr. Claudia Croos-Müller liegt es am Herzen, das Thema zu enttabuisieren und konkrete Hilfen für Jugendliche, Eltern und Menschen in Not anzubieten. In ihrem gerade erschienenen Buch «Halt! Das kleine Überlebensbuch» finden Betroffenen leicht zugängliche Soforthilfe-Ideen, die «zu einem Innehalten führen, zum Überwinden des winzigen Augenblicks der blinden Affekthandlung», so die Ärztin. Hier spricht sie darüber, was Jugendliche stärkt und wie Eltern und Schulen schützend und stützend für Jugendliche in Not da sein können. 

Dr. Croos-Müller, was sind Gründe für den hohen psychischen Druck der Jugendlichen?

Neurophysiologisch gesehen ist die Übergangszeit zwischen Kindheit und Erwachsenenalter schon immer eine körperlich und psychisch schwierige Zeit gewesen. Durch Hormone verändert sich das äussere Erscheinungsbild, im Gehirn entstehen neue neuronale Verknüpfungen. Das ist mit ein Grund für die Reizbarkeit, das erhöhte Schlafbedürfnis und die erschwerte Konzentration bei Jugendlichen in der Pubertät.

Wenn in der sensiblen Zeit auch noch Krisen auftreten – familiäre Probleme, Mobbing in der Schule oder im Internet, schlechte Noten – kann das emotionale Gleichgewicht noch mehr gestört werden und es besteht die Gefahr einer psychischen Dekompensation mit Affekthandlungen. Da reicht dann ein minimaler Auslöser. Leider wird auf Social Media wenig Hilfreiches angeboten, ganz im Gegenteil.

Besonders Depressionen, Angst- und Essstörungen haben bei jungen Menschen zugenommen. Was sind Zeichen, die Eltern hellhörig machen sollten?

Wenn sich Kinder und Jugendliche immer mehr zurückziehen, immer weniger sprechen bis hin zum vollkommenen Verstummen, ihre sozialen Kontakte reduzieren oder aufgeben, sollten Eltern aktiv werden. Schulverweigerung ist immer ein Alarmzeichen.

Wie reagieren Eltern richtig?

Indem sie das Gespräch mit dem Kind suchen. Wenn es nicht redet, sollten Eltern mit dem Freundeskreis oder der Schule sprechen. Und je nach Ergebnis dann Fachpersonen, Beratungsdienste oder auch Kinder-und Jugendpsychologinnen oder Psychotherapeuten einschalten, und zwar früh- und rechtzeitig.

Alle Symptome, die länger als vier Wochen andauern, sollten dringend zum Handeln führen. 

Das kann ich natürlich nur, wenn ich meinem Kind gegenüber wohlwollend achtsam und lenkend bin. Dass Kinder gerade in diesem sensiblen Lebensabschnitt oft sich selbst überlassen werden, halte ich für bedenklich.

Was brauchen Jugendliche, um unbeschadet aus einer Krise herauszukommen?

Es müsste viel mehr Wert gelegt werden auf das Training von psychomentaler Stabilität, also von Resilienz. Die beste Grundlage sind resiliente Eltern. Aber auch in Kindergarten und Schule können Angebote wie autogenes Training, Unterricht in Atementspannung, bewegte Pause und Ruheräume die Resilienz fördern. Langzeituntersuchungen bestätigen, dass resiliente Kinder wesentlich widerstandsfähiger sind gegen Mobbing, dass sie weniger zu Anorexie, Depressivität oder Suizidalität neigen.

Welche Rolle spielen Sport und Aktivität?

Eine grosse. Gerade in dieser digitalen Zeit ist die lustvolle Bewegung in der Natur wichtig für Jugendliche. Südkorea und Taiwan sind da einen Schritt weiter als wir. Obwohl diese Länder führend sind in der Computerentwicklung, ist der Schulunterricht dort stundenweise inzwischen wieder frei von Laptops und wird im Freien abgehalten. So sollen Übergewicht, Schlafstörungen, Depression und Kurzsichtigkeit vermieden werden. Körperliche Aktivität, die Spass macht, ist eins der besten Heilmittel gegen depressive Verstimmungszustände, da dabei Neurotransmitter entstehen, die antidepressiv wirken.

Was würden Sie Jugendlichen gerne sagen, die verzweifelt sind und ein Gefühl der Ausweglosigkeit haben?

«Gehe gut mit dir um! Gib dich niemals auf! Du schaffst das!». Wichtig ist der Hinweis auf Heldengeschichten, sowohl von fiktiven Helden wie Harry Potter als auch von echten Helden unserer Zeit wie zum Beispiel Kevin Hines. Wegen seiner drogensüchtigen Eltern wurde er an Pflegeeltern abgegeben. Als Jugendlicher wurde er manisch-depressiv und stürzte sich von der Golden Gate Bridge in San Francisco. Da geschah das Wunder seines Lebens: er überlebte. Kevin berichtet heute in Vorträgen über die furchtbare Reue in der ersten Millisekunde seines Sturzes und den Wunsch, alles rückgängig machen zu können. Er hält Vorträge, um Menschen zu ermutigen, ihr Leben doch noch in die Hand zu nehmen. Auf YouTube kann man ihn erleben, mit seinem Motto: Live for tomorrow! In einem Krisenmoment kann es Jugendlichen mit Gedanken an Suizid helfen, zu wissen, dass nur der Moment düster ist, sie aber aus eigener Kraft ihre Zukunft zum Besseren ändern können.

Sie selbst bieten die kostenlose App Body 2 Brain an. Was finden Nutzer in der App?

Dort werden zu bestimmten negativen Gefühlszuständen Mini-Übungen angeboten, die sofort eine Stimmungsänderung bewirken können.

Untersuchungen zeigen, dass es für die psychische Gesundheit von Jugendlichen gut ist, eine erwachsene Bezugsperson zu haben, die nicht Mutter oder Vater ist. Wer könnte das sein?

Ein Vertrauenslehrer, ein Freund der Familie, eine gütige Grossmutter, ein beherzter Grossvater. Es kann auch eine Vertrauensperson aus der Nachbarschaft oder eine Zeit lang eine psychotherapeutische Begleitung sein oder ein Ansprechpartner bei einem Hilfsangebot wie «Die Dargebotene Hand». Im besten Fall jemand, der Lebenserfahrung, Menschenfreundlichkeit und Resilienz nicht nur predigt, sondern beispielhaft vorlebt.

Hier findest du Hilfe

Angebote für Jugendliche mit Suizid-Gedanken

Die Dargebotene Hand Tel. 143

Wenn du dringend mit jemandem reden musst, anonym und jederzeit erreichbar. 

Heart2Heart Tel. 143

Crisis support in English, anonymous and free of charge.

www.147.ch

Hier kannst du anrufen, Infos bekommen, mit Gleichaltrigen chatten oder mailen, wenn du Suizidgedanken hast oder dich um eine Freundin oder einen Freund sorgst.

Suizidprävention Kanton Zürich

Adressen, Infos, Unterstützung. Schau einfach mal vorbei.

Buchtipp

Jugendliche Suizid, Wenn Jugendliche an Suizid denkenHalt! Das kleine Überlebensbuch

Soforthilfe bei Krise, Verzweiflung, Ausrastern und Co.

Von Dr. Claudia Croos-Müller

Kösel-Verlag

In diesem Buch findest du konkrete Übungen aus der Körpertherapie, die dir helfen können, einen kritischen Moment im Leben zu überwinden. Ausserdem bekommst du Erste-Hilfe-Tipps, um dir bei psychischen Belastungen selbst zu helfen.

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