Toxische Maskulinität – Stereotypen und ihre Auswirkungen

Bedeutung und Folgen von falsch verstandener Männlichkeit

Toxische Maskulinität: Mann reckt nach einem Boxkampf Hände in die Luft.
Was versteht man unter dem Begriff «toxische Maskulinität oder Männlichkeit» und wie äussert sie sich?

Toxische Männlichkeit bezeichnet problematische, sozialisationsbedingte Einstellungen, Verhaltensweisen und Präsentationen von Jungen und Männern, mit denen sie vorwiegend Frauen und anderen marginalisierten Menschen Schaden zufügen, indem sie sie diskriminieren, ausgrenzen, benachteiligen, oder ihnen gegenüber übergriffig oder gewalttätig sind. Wir unterteilen in zwei Formen: Bei der individuellen Toxizität handelt es sich um individuelle Entscheidungen, bei einem extremen Beispiel ein Mann, der eine Gewalttat gegenüber einer Frau begeht. Die strukturelle Toxizität meint die Benachteiligung im System, wenn Frauen beispielsweise schlechter bezahlt werden als Männer. Beide Formen fliessen ineinander, denn auch innerhalb des Systems gibt es individuelle Entscheidungen und individuelle Entscheidungen sind durch die Gesellschaft geprägt. 

Sprechen wir von toxischer Maskulinität, gibt es nicht ein Profil, es ist ein Kontinuum: Es fängt schon beim Partner an, der keine Verantwortung im Haushalt übernimmt und reicht demgegenüber bis hin zu extremen Beispielen wie Wladimir Putin. So oder so gibt es keine Männer, die gar keine toxischen Anteile haben, selbst wenn sie sehr selbstreflektiert sind.

Welche gesellschaftlichen Faktoren tragen zur Entstehung und Verbreitung toxischer Männlichkeit bei?

Gehen wir dafür einen Schritt zurück: Was ist überhaupt Männlichkeit? Da gibt es zum einen die Biologie, zum anderen die Geschlechteridentität, also wie wir uns Jungs und Männer in der Gesellschaft vorstellen. Mädchen sollen mit Puppen und der Kinderküche spielen, um sich auf die vermeintlich unausweichliche Mutterrolle vorzubereiten, sie sollen «hübsch sein» und erhalten häufig sehr früh Schminkkästen oder sie sollen nicht negativ auffallen. Jungs dürfen hingegen laut sein und sich Raum nehmen, der ihnen nicht zusteht. Sogar Prügeleien sind legitimiert, denn Jungs «raufen doch einfach», «Jungs sind halt so». Beleidigen sich Jungs gegenseitig und nutzen dafür Begriffe wie «du Mädchen», steckt bereits dort Frauenabwertung dahinter. Jungs lernen früh, dass Männlichkeit stark sein bedeutet, ein Held zu sein, leistungsstark, auch in Bezug auf Sexualität, zu dominieren und sich zu vergleichen. Frust und Gewalt sind dadurch legitimiert. Dazu gehört ausserdem ein riskantes Verhalten, was sich beispielsweise in der Zahl der Unfalltode niederschlägt, hier sind es deutlich mehr männliche Opfer. Stereotypen finden sich überall: Selbst Cartoons und Kinderbücher geben vor, welche Rollen Männer und Frauen einnehmen sollen, dabei wird immer das Bild des «mächtigen» Mannes aufrechterhalten. Gleichzeitig lernen Jungs, dass es lukrativ ist, männlich zu sein. Denn wenn sie einen schlechteren Schul- oder Universitätsabschluss als Frauen machen, bekommen sie später in der Regel trotzdem den besseren Job.

«Jungs lernen früh, dass Männlichkeit heisst, dass sie nicht weiblich sein dürfen – keine Gefühle zeigen, nicht schwach sein, nicht homosexuell sein und immer männlich wirken.»

Demgegenüber sind Jungs ebenso bedürftig und brauchen Nähe, Emotionen, einen liebevollen Umgang und Zärtlichkeit. Es wird ihnen aber vermittelt, dass das alles eher für Mädchen ist. Abgespaltene Gefühle und zu wenig Nähe können zu Frust führen, der sich dann über negative Verhaltensweisen wie Gewalt kanalisiert.

Welchen Einfluss hat toxische Maskulinität auf die Gesundheit von Männern?

Es gibt gute Studien, die zeigen, dass Männer durchschnittlich fünf Jahre früher sterben als Frauen. Gründe dafür sind das riskantere Verhalten und die weniger gesunde Lebensweise. Männer rauchen öfter, trinken mehr Alkohol, konsumieren mehr Drogen, gehen weniger zu Ärztinnen und Ärzten. Der Impuls, sich um seine Gesundheit zu kümmern oder gesund zu ernähren, kommt nicht selten von den Partnerinnen. Männer gehen deutlich seltener in Therapien und begehen dreimal häufiger Suizid als Frauen. Das ist dem Bild geschuldet, dass eine Behandlung unmännlich wäre und sie nicht schwach sein dürfen. Männer haben oft ein Problem damit, sich Schwächen einzugestehen. Das trifft natürlich nicht auf jeden Mann gleichermassen zu, wie gesagt, es ist ein Kontinuum.

«Durch toxische Maskulinität schaden Männer nicht nur Frauen, sondern auch sich selbst.»

Das zu überwinden hätte also Vorteile für die Männer selbst und für die Gesellschaft …

Wer seine toxische Maskulinität ablegt, kann länger leben, psychisch und physisch gesünder sein, ein besserer Partner und Vater sein. Geht es weniger um Konkurrenz und Unterdrückung, wären Männer zufriedener und ausgeglichener. Sie können bessere Beziehungen haben: zu sich selbst und anderen.

Darüber hinaus würden für die Gesellschaft enorme Kosten eingespart. Durch die gesündere Lebensweise könnte im Gesundheitssystem gespart werden. Zudem verursachen Gewalt und Straftaten enorme Kosten, durch Gefängnis- und Verfahrenskosten sowie Therapien für Opfer. 

Welche Auswirkungen hat toxische Maskulinität auf die Gleichberechtigung der Geschlechter beziehungsweise den Feminismus?

Beide hängen zusammen. Toxische Männlichkeit ist ein Ausdruck unserer Gesellschaft, weibliche Gleichberechtigung zu verhindern. Sie erhält das Bild weiter aufrecht, dass Männer die Stärksten, Dominierenden und Mächtigsten der Gesellschaft wären. Daher ist es eigentlich in der Verantwortung der Männer, sich zu ändern, und nicht die der Frauen. Für Männer besteht leider aufgrund ihrer Privilegien aber häufig wenig Anreiz dazu.

Gibt es typische Beispiele für toxische Männlichkeit?

Viele: Frauen beim Sprechen zu unterbrechen, Mansplaining, Manspreading, Hepeating, Dickpicks, Catcalling, wenn Männer Männer einstellen, obwohl eine Frau besser qualifiziert ist. Die ungleiche Verteilung der Haus- und Carearbeit sowie beim Mental Load. Zu toxischer Maskulinität zählt ausserdem übergriffiges Verhalten wie ein Gespräch einfach weiterzuführen, wenn die Frau dies nicht möchte, Frauen ungefragt zu berühren oder küssen oder ihnen Vorschriften zu machen. In reinen Männergruppen steigern sich viele frauenfeindliche Verhaltensweisen und äussern sich in starker Konkurrenz und Wettbewerb. 

Extreme Ausmasse nimmt es in der Pornographie-Industrie, Prostitution, Incel-Szene, bei Vergewaltigung, Mord, Femizid, Amokläufen, Terror, Diktaturen und Krieg an.

Begriffserklärungen

Mansplaining: eine bevormundende oder herablassende Art, mit der ein Mann einer Frau ungefragt die Welt erklärt. 

Hepeating: Männer geben die Idee einer Frau als ihre eigene aus, obwohl sie diese vorher als unbrauchbar abgetan haben. 

Manspreading: ein Mann, der sehr breitbeinig sitzt, und dadurch mehr Platz beansprucht als ihm zusteht, zum Beispiel im Zug.

Dickpicks: ungefragt verschicktes Bild vom erigierten Glied.

Catcalling: sexuell anzügliche Pfiffe, Rufe oder Gesten gegenüber Frauen in der Öffentlichkeit.Incel: kurz für «involuntary celibate men», übersetzt unfreiwillig im Zölibat lebende Männer, welche Frauen dafür hassen, dass sie keinen Geschlechtsverkehr mit ihnen haben und teilweise der Auffassung sind, sich diesen mit Gewalt nehmen zu dürfen.

Was kann man gegen toxische Maskulinität unternehmen?

Ich finde es wichtig, dass Männer anerkennen, dass es diese patriarchalischen Strukturen gibt und dass sie selbst Privilegien geniessen, deretwegen es ihnen besser geht als Frauen und durch die sie in der Gesellschaft bevorzugt werden. Sie sollten zuhören, wie es Frauen wirklich geht, sich mit Feminismus und den Lebensrealitäten von Frauen beschäftigen, da sich diese enorm von denen der Männer unterscheiden. Es gehört auch dazu, dass man sich eingesteht, sich selbst hin und wieder problematisch zu verhalten, indem man seine eigene Haltung gegenüber Frauen hinterfragt und offen für Kritik ist. Diese Erkenntnisse sind der Weg, wie man beginnen kann, etwas zu verändern. Generell sollten sich Männer mehr und selbstständig mit gesunder Ernährung, Hygiene, Auszeiten, Gesundheitsvorsorge und therapeutischer Hilfe beschäftigen. Es gibt Bewegungen wie Men.Return, die sich gezielt mit solchen Themen befassen und versuchen, Lösungen zu finden.

Gesellschaftlich muss sich noch einiges tun: Es sollte viel mehr Aufklärung betrieben werden, auch im Schulunterricht. Bei den Ausbildungen in den Bereichen Psychologie und Pädagogik wird das vollkommen ausser Acht gelassen. Ausserdem muss man ganz klar hinterfragen, was Kinder konsumieren. Nicht selten haben schon sehr junge Kinder Zugriff auf Pornographie, die auf dem Schulhof die Runde machen, da braucht es mehr Schutz.

Was wird die grösste Herausforderung sein?

Ich glaube man kann ganz viel verändern. Wenn ich mich selbst verändere, werden jedoch immer Teile davon bleiben, aufgrund der Strukturen, in denen ich lebe. Es wird also eine Sache von Generationen. Die grösste Hürde auf dem Weg dorthin wird wahrscheinlich sein, dass Männer überhaupt erstmal anerkennen, dass es ein Problem ist. Dann könnten wir schon ganz anders über toxische Maskulinität sprechen. Da sie sich schnell benachteiligt fühlen, wird es nicht einfach, dass Männer sich mal zurücknehmen und Privilegien abgeben. 

Haben Sie Tipps für Eltern?

Man kann schon früh eine gewisse Awareness schaffen. Eltern sollten daheim aufmerksam sein, um von den Stereotypen wegzukommen und sie nicht an ihre Kinder weiterzugeben. Bezüglich Medienkonsum kann man natürlich nicht verbieten, was alle anderen gucken dürfen. Aber man kann die Serien gemeinsam mit dem Kind besprechen und das Gesehene reflektieren. Generell sind positive männliche Vorbilder sehr wichtig, Männer, die Gleichberechtigung vorleben, wertschätzend agieren und ein gutes Bild von Männlichkeit zeichnen.

Vielen Dank für das Gespräch.

toxische Maskulinität, Toxische Maskulinität – Stereotypen und ihre Auswirkungen
Facebook
Email
Twitter
LinkedIn