«Ich bin jeden Tag gestorben und niemand hat es gesehen.»

Franziska Dully gibt intime Einblicke in ihre Borderline-Erkrankung

Borderline Erkrankung: Skateboard steht mittig quer über der Strasse, genau auf der Fahrbahntrennlinie.
Du bist diagnostiziert mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung: Kannst du die Erkrankung kurz erklären?

Borderline ist eine komplexe Krankheit, die viele Facetten hat. Viele denken dabei zuerst ans Ritzen, also die Selbstverletzung, aber das ist nur ein Symptom. Es ist eine Persönlichkeitsstörung, die psychische Struktur ist anders als bei gesunden Personen. Ausschlaggebend ist eigentlich, dass man grosse Probleme hat, seine Gefühle zu regulieren und immer wieder in emotionale Extreme fällt. Typisch sind auch problematische Beziehungen mit anderen Menschen.

Wann hast du gemerkt, dass bei dir etwas anders ist?

Schon als Kind. Ich hab oft gesagt bekommen «Franzi, du bist anstrengend, du tanzt aus der Reihe, du bist dauernd unzufrieden.» Und man hinterfragt nicht, was Erwachsene einem sagen, sondern nimmt das als die Wahrheit hin. Deshalb hab ich einfach geglaubt, dass ich eine schwierige Persönlichkeit habe. Ich bin schon recht selbstbewusst, aber häufig ist meine Selbstwahrnehmung mit dem kollidiert, was andere mir gesagt oder über mich gedacht haben. Ich wäre dennoch nicht auf die Idee gekommen, dass ich krank bin.

«Es gab keinen einzigen Tag in meiner Jugend, an dem ich glücklich war. Ich kann mich nicht daran erinnern, irgendwann mal keinen Schmerz verspürt oder mich geborgen gefühlt zu haben. Ich bin jeden Tag still und heimlich gestorben und niemand hat es gesehen.»

– aus Franziskas Buch Was du nicht siehst

Als Jugendliche hast du dann die Diagnose bekommen. War das eine Erleichterung?

Ich dachte schon «Gottseidank, es hat einen Namen». Aber ich war erst 16 und als Teenie war ich noch nicht so gefestigt und konnte nicht wie jetzt einordnen, welche Auswirkungen die Borderline-Erkrankung auf mein Leben hat. Meine Eltern wollten das alles auch nicht so richtig wahrhaben und es blieb dann so stehen. Erst als ich mit 21 zur Therapie gegangen bin, hab ich das alles so richtig begriffen.

Kannst du erklären, wie sich Borderline anfühlt?

Das ist natürlich bei jedem unterschiedlich. Wenn ich meine Realität beschreiben soll: Seit ich ein kleines Kind bin, hatte ich immer diesen riesigen Schmerz in mir und empfand unterbewusst, dass ich gerade sterbe. Das fühlt sich etwa so an als würde man rücklings auf einem Skateboard sitzen, das einen steilen Berg hinunterrast, und ich weiss genau, dass ich gleich unten aufpralle. Ich lebe also gefühlsmässig ständig in dem Moment kurz vorm Aufschlag.

Und ich weiss, dass das nur ein Gefühl ist. Aber Gedanken und Gefühle sind voneinander getrennt. Gefühle bilden sich aus unseren Erfahrungen und Traumata. Sie tauchen einfach auf und lassen sich nicht steuern. Ich kann zwar gedanklich wissen, dass alles gut ist, aber mich trotzdem so fühlen als würde ich sterben. Das können viele Leute nicht nachvollziehen und denken dann, dass ich doch eigentlich zufrieden sein müsste.

Auch in deinem Buch sprichst du mehrfach davon, emotional zu sterben. Was meinst du damit?

Emotionales Sterben gibt es tatsächlich. Dafür muss ich kurz ausholen: Man sucht als Borderliner sein Leben lang nach der symbiotischen Beziehung, die man in frühester Kindheit zu seiner Mutter nicht hatte. Findet man einen Ersatz, beispielsweise in einer Partnerschaft, hat man permanent Angst, diesen wieder zu verlieren und ist regelrecht emotional abhängig. Kommt es dann zum Verlust, wiederholt sich die existenzielle Angst, die ein Baby empfindet, wenn die Mutter nicht da ist.

Demnach liegt der Ursprung deiner Borderline-Erkrankung in deiner frühesten Kindheit?

Man hat mich als Säugling schreien lassen, das war ein Auslöser. Es war nie in böser Absicht, meine Mutter war einfach überfordert mit einem Schreibaby. Doch das hat weitreichende Folgen für die Entwicklung einer gesunden Psyche, weil die ersten Lebensjahre für die psychische Gesundheit enorm wichtig sind.  Ein Baby kann nicht allein überleben und hat noch nicht die kognitiven Fähigkeiten, zu wissen, dass seine Mutter es nicht verhungern lassen wird. Lässt man es einfach schreien, hat es das Gefühl alleingelassen zu sterben. Das bedeutet wiederholt das Gefühl von Todesangst, die sich tief ins Unterbewusstsein einbrennt und mich ein ganzes Leben begleitet. Der Halt hat mir durch die gesamte Kindheit gefehlt. Hinzu kam, dass andere Menschen mir immer gesagt haben «Deine Wahrnehmung ist falsch. Du kannst das gerade nicht fühlen.» Wenn andere deine Wahrnehmung ständig infrage stellen, macht dich das kaputt und du kannst dir selbst nicht mehr trauen. Wenn man nicht mehr weiss, was wahr ist und was nicht, können sich schlimmstenfalls sogar Psychosen entwickeln. Das macht viel mit einem Kind. Deshalb ist es so wichtig, dass Kinder in ihren Gefühlen ernstgenommen werden.

«Dieser seelische Schmerz ist so groß, dass er mir auch körperlich weh tut. Dieses Monster, das mich gerade angreift, ist nicht wirklich existent und das weiß ich selbstverständlich, aber dieses Wissen hilft nicht. Denn der Schmerz ist vorhanden, er ist real, egal, was ich tue. Er überfällt mich, ohne mir die Möglichkeit zu geben, mich zu wehren und zerrt mich hinab in eine unerbittliche, lodernde Hölle. Lieber würde ich sterben, als dieses Gefühl dauerhaft zu ertragen.»

Wie beeinflusst das alles deinen Alltag?

Meine Gefühle sind extrem und daher fällt es mir mitunter schwer, mich normal zu verhalten. Ich kann zum Beispiel sehr wütend werden und weiss, dass das gerade nicht angebracht oder verhältnismässig ist. Deshalb versuche ich, meine Gefühle im Zaum zu halten; das gelingt nicht jedes Mal. Es ist als würde einem ständig der Boden unter den Füssen weggerissen. Wo andere vielleicht nur ein kleines Problem sehen, haben Borderliner das Gefühl, dass sie sterben müssen.

Hast du Bewältigungsmechanismen, damit es leichter ist?

Ich achte darauf, dass ich möglichst kompensiert bin. Und ich erkenne frühzeitig, wenn ich drohe, in ein Loch zu fallen, so kann ich mir überlegen, was heute dabei hilft, das Tief nicht ganz so tief werden zu lassen. Früher dachte ich an solchen Tagen «Es ist scheisse, es war scheisse und es wird für immer scheisse sein.» Durch meine Therapie hab ich gelernt, das anders zu sehen: «Es ist scheisse, aber es war nicht immer scheisse und es wird auch nicht immer scheisse sein.» Also muss ich nur das gegenwärtige Gefühl überstehen – das ist im Gegensatz zu vorher nicht mehr unendlich, sondern absehbar. Meine Therapeutin hat mir das wirklich eingeprägt und andauernd wiederholt. Gefühle lernen ja aus Erfahrung und ich habe gelernt, dass es wirklich wieder vorbeigeht und ich jedes Mal erfahre, dass es besser wird. Dadurch kann ich jetzt besser Einfluss nehmen.

Demnach hat die Therapie dir wirklich sehr geholfen?

Die kognitive Verhaltenstherapie in den Kliniken nur begrenzt. Anders wurde es durch meine jetzige Therapeutin. Man muss wirklich verstehen, was in einem vorgeht und muss alles analysieren und aufarbeiten. So findet man heraus, wo es herkommt.

Was machst du neben Therapie und Medikation im Kampf gegen die Borderline-Erkrankung?

Zur Therapie gehe ich nicht mehr regelmässig, denn ich kann mich fragen «Was würde meine Therapeutin jetzt sagen» und damit schon vieles selbst lösen. Das ist auch das Ziel der Therapie. Nur, wenn es ganz schlimm ist, rufe ich sie an. Es wird in der Therapie dazu geraten Achtsamkeit, Meditation, Yoga und das alles zu praktizieren, aber ehrlich, das ist einfach nicht mein Ding. Meine Strategie besteht darin, zu gucken, wie ich durchkomme, denn ich kann ja eh nicht planen, was passiert. Was mir wirklich hilft, ist das Reiten. Zum einen muss ich dabei mit meiner Aufmerksamkeit voll und ganz beim Pferd sein und mich konzentrieren, da ist kein Platz für andere Gedanken, ähnlich wie beim Meditieren. Zum anderen finde ich in meinem Pferd Fleur sehr viel Halt und eine zuverlässige Konstante.

Empfindest du das Leben manchmal als ungerecht, weil du darunter leiden musst, oder hast du eine Art von Frieden mit deiner Diagnose geschlossen?

Frieden tatsächlich noch nicht. Für mich ist nicht nur die Diagnose ungerecht, sondern wie es in meinem Leben immer so läuft. Es passiert sehr oft das Schlimmste, was passieren kann. Manchmal ist es als sässe da oben einer, der sich einen Spass draus macht. Man darf das nicht falsch verstehen, ich hab viel erreicht und da sind gute Sachen, die würde ich gern einfach geniessen und nur zufrieden sein. Aber mich verfolgt das Unglück wie zum Beispiel vergangenes Jahr: Ich hatte nach einer schweren Episode aufgrund einer Trennung in einem Pferd endlich wieder einen grossartigen Grund zu leben gefunden. Nochmals: Toffifee war für mich existenziell, so wie es heute ihre Nachfolgerin Fleur ist. Alles lief gut, bis sie sich im Herbst bei einem Fotoshooting in Stallnähe losriss und davonlief. Sie rannte mehrere Kilometer weit und stiess dann mit einem Personenzug zusammen. Das hat sie natürlich nicht überlebt. Die meisten Pferde wären zurück zum Stall, zu den Artgenossen gelaufen oder zumindest irgendwann stehengeblieben. Wie wahrscheinlich ist es, dass etwas so Furchtbares passiert? Das empfinde ich schon als ungerecht.

Was wünschst du dir für deine Zukunft?

Dass alles gut wird. Ich wünsche mir einfach nur halbwegs glücklich zu sein und nicht immer Sorgen zu haben – morgens aufzustehen und die Welt ist in Ordnung. Der Weg darf weniger steinig sein und ich hoffe irgendwann den Sinn hinter allem erkennen zu können.

Hast du einen Rat für andere Betroffene oder generell Personen, die auch zu kämpfen haben?

Ich frag mich, was ich früher hätte hören wollen. Die meisten Menschen tun sicherlich alles, was sie können, um mit ihrem Leid irgendwie auszukommen. Ich würde sagen, dass man nicht aufgeben und weiter nach Lösungen suchen soll, damit es irgendwann besser wird.

Hast du einen Rat für Angehörige, wie sie es den Personen mit Borderline-Erkrankung leichter machen können?

Zuhören! Man sollte nachfragen, woher die Emotionen wie Trauer oder Wut kommen und dann zuhören. Im Idealfall nimmt man dann Abstand von der eigenen Realität und lässt sich auf die Realität des Gegenübers ein. Dabei versuchen zu akzeptieren, dass die Wahrnehmung dieser Person nicht unbedingt die gleiche ist wie die eigene und dass alle Gefühle ihre Daseinsberechtigung haben. Irgendwie wünscht sich das doch jeder Mensch, dass man einfach so gesehen wird, wie man in Wirklichkeit ist.

Liebe Franzi, vielen Dank für dieses offene, ehrliche und inspirierende Gespräch. Ich wünsche dir genau die Zufriedenheit, nach der du dich sehnst.

Buchempfehlung

Wer noch mehr Einblicke in Franziskas Leben bekommen möchte, dem empfehlen wir ihr Buch «Was du nicht siehst. Diagnose Borderline – zwischen Todesangst und Lebenstraum». Im Buch erzählt sie ihre Geschichte, ganz von Anfang an und macht Mut: Betroffenen, Angehörigen und Interessierten an Borderline-Erkrankungen.

Borderline Erkrankung, «Ich bin jeden Tag gestorben und niemand hat es gesehen.»

 

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