Perfektionismus erfolgreich loswerden: Auf dem Weg zur Selbstakzeptanz  

Von Fantasiefiguren und Gesellschaftswandel

Lachende Frau auf Schaukel

Spoiler

  • Perfektionismus entsteht oft aufgrund von Sorgen um die Meinung und Kritik anderer.
  • Eine Sichtweise und Verhaltensänderung durch das Sammeln neuer Erlebnisse kann helfen, den eigenen Perfektionismus abzulegen.
  • Als Gesellschaft müssen wir unsere Erwartungen überdenken und realistischere Massstäbe setzen, um die negativen Auswirkungen von Perfektionismus zu verhindern.
Frau Dr. Licht, wie kann man den eigenen Perfektionismus loswerden?

Zuallererst ist es wichtig zu verdeutlichen, dass der Hang zum Perfektionismus oft, aber nicht ausschliesslich, aufgrund von Sorgen um die Meinung und Kritik anderer entstanden ist. Die Wurzel von Perfektionismus liegt häufig in der Angst vor Fehlern. Bleibt sie in einem verankert, kann sie das ganze Leben negativ beeinflussen. Aus diesem Grund ist es wichtig, genau diese Angst zu verlieren, indem man korrektive Erfahrungen macht. 

Das heisst? 

Neue Erlebnisse und Erkenntnisse zu sammeln, die zu einer neuen Sichtweise, also zu einer Verhaltensveränderung führen können. Wer seinen Perfektionismus loswerden will, kann das effektiv mit professioneller Unterstützung in Form einer kognitiven Verhaltenstherapie ausprobieren. Dabei ist das Grundprinzip nicht nur, diese Veränderungen zu erleben, sondern sie aktiv zu bemerken und bewusst wahrzunehmen.

Okay, und wie macht man das genau? 

Nehmen wir einmal an, dass man als Kind von den Eltern stark kritisiert wurde. Das Gehirn, das im Kindesalter gelernt hat, immer verurteilt zu werden, merkt im Erwachsenenalter nicht, dass dies nicht mehr der Fall sein muss. Das bedeutet für den Perfektionisten von heute, dass er seine Gedanken aktiv hinterfragen muss, um korrektive Erfahrungen wahrzunehmen. Oft findet nämlich gar keine Verurteilung oder Missbilligung statt, sondern eher nur die Befürchtung davor. Die erste Frage, die man sich also stellen muss, wenn man seinen Perfektionismus loswerden will, ist, woher die eigene Angst überhaupt kommt. Weiss man ihren Ursprung, darf man versuchen, sich mit ihr zu konfrontieren. Das funktioniert am besten, wenn man sich das Szenario, vor dem man sich so fürchtet, einmal im Detail vorstellt. Am Ende ist das ganze nämlich gar nicht so schlimm. 

Was, wenn der innere Selbstkritiker aber zu laut ist und den Perfektionismus gar nicht loswerden will? 

Für Perfektionisten ist das Streben nach makelloser Leistung so tief verwurzelt, dass dieser Aspekt des Selbst oft nicht mehr kritisch hinterfragt wird. Die Selbstkritik wird dann in Verbindung mit dem Perfektionismus zu einem Werkzeug, um vermeintliche Unvollkommenheit zu überwinden. Man gewöhnt sich an die strenge innere Stimme, die ständig das Maximum einfordert. In solchen Momenten ist es wichtig, seine Werte bewusst zu hinterfragen. Eine nützliche Frage könnte sein: Habe ich einen Doppelstandard? Bin ich zu mir selbst viel strenger als mit anderen? Wenn ja, wie stehe ich zu dieser Tatsache? Wie stehe ich überhaupt zum Thema Selbstkritik? Indem man seine eigenen Werte klar definiert, kann man sich bewusst von diesem überkritischen inneren Dialog distanzieren und sich somit auch erlauben, den eigenen Perfektionismus loszuwerden.  

Haben Sie dafür vielleicht eine konkrete Bewältigungsstrategie, die jeder anwenden kann?

Eine Möglichkeit ist es, sich eine unterstützende und liebevolle Figur vorzustellen. Das kann die eigene Grossmutter, der beste Freund oder auch eine komplette Fantasiefigur sein. Diese Figur begleitet einen fortan gedanklich. Sie ist liebevoll, einfühlsam, klug und ermutigend. Sie gibt gute Ratschläge und fördert Freundlichkeit und Selbstakzeptanz. Man kann sich voll und ganz auf sie verlassen und wissen, dass man zusammen mit dieser Figur keinen Schaden anrichtet und wichtige Chancen im Leben verpasst. Wer nichts mit der Fantasiefigur anfangen kann und etwas Greifbares braucht, kann auch ein Objekt nehmen, das für einen selbst Ruhe und Sanftheit symbolisiert. Die Grundidee ist, dass man Situationen erkennt, in denen man zu streng mit sich selbst ist und perfektionistisch handelt. In solchen Momenten erinnert einen die vorgestellte Figur oder das gewählte Symbol daran, sich selbst gegenüber sanfter und nachsichtiger zu sein.

Kann die Gesellschaft eine Rolle beim Überwinden von Perfektionismus spielen? 

Auf jeden Fall. Unsere Kultur ist stark von wirtschaftlichem Denken und Streben nach wirtschaftlichem Wachstum geprägt, so dass fast alles in Geld übersetzt wird. Werte wie höchste Leistung und optimale Produktivität stehen im Vordergrund. Da ist es nicht leicht, den gesellschaftlichen Perfektionismus loszuwerden. Gleichzeitig wünschen wir uns aber ein erfülltes und langes Leben. Diese einseitige Fokussierung auf wirtschaftliches Wachstum lässt sich nicht gut mit den Zielen eines erfüllten und langen Lebens kombinieren. Es ist schlichtweg nicht möglich, bis zur Erschöpfung zu arbeiten und dabei inneren Frieden zu empfinden. Es ist simpel: Die Maximalerfüller von heute sind die Kranken von morgen. Uns wird viel zu viel abverlangt und so wird der Mensch krank. Physisch und psychisch. Noch schlimmer ist, dass die Kosten in Franken statt im Wohlbefinden und Lebensqualität gemessen werden.  Geld ist nur ein Mittel zum Zweck. De facto haben wir es aber umgekehrt und entsprechend lesen wir Beiträge, die von x Burnoutfällen schreiben, die uns dieses Jahr y Franken gekostet haben. Dabei haben wir vergessen, dass uns der Druck von heute nicht Franken, sondern Lebensqualität und Menschenleben kostet. Als Gesellschaft müssen wir deshalb ein breiteres Bewusstsein für die negativen Auswirkungen von Perfektionismus schaffen, damit wir unsere Erwartungen überdenken und realistischere Massstäbe setzen können.

Vielen Dank für das Gespräch.
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