«Jede Entscheidung ist mit Wehmut verbunden. Das nehme ich in Kauf.»

Wie lebt es sich in San Francisco anders als hier in der Schweiz?

Wie viel Zeit hast du? Alles ist anders. Vor Jahren bin ich einmal zurückgezogen in die Schweiz, bin aber dort nie mehr heimisch geworden. Ich habe immer etwas vermisst, obwohl dort objektiv gesehen alles besser ist. Die USA sind dagegen wie irgendwas zwischen einem Drittweltland und einem rechtsfreien Raum. Nicht der einfachste Ort zum Leben. Und doch finde ich die generelle Lebenshaltung extrem befreiend. Diese innere Einstellung, dass man grundsätzlich mehr für möglich hält. Ich bin dann 2015 zurück nach San Francisco gegangen, habe mich in meinen jetzigen Mann verliebt und bin geblieben. 

Du lebst in dritter Ehe in deiner Wahlheimat und bist deinem Traum zu schreiben bis heute treu geblieben. Es wirkt, als seist du immer konsequent und mutig deinen Weg gegangen. 

Ich empfinde es nicht als geradlinig und mutig. Es war immer mit viel Schmerz verbunden, und es dauerte ewig, bis ich mich durchringen konnte. Aber ich habe eine Zuversicht, dass es am Ende gut kommt. Meine Mutter hat immer gesagt, alle wichtigen Entscheidungen fällst du 49 zu 51 Prozent und nicht 99 zu 1. Das finde ich hilfreich. Oft haben wir das Gefühl, wenn nicht ganz klar alle Gründe für etwas sprechen, kann man es nicht tun, dann ist man nicht sicher. Ich habe immer in Kauf genommen und akzeptiert, dass jede Entscheidung auch mit Wehmut verbunden ist. San Francisco ist ein hartes Pflaster, und ich bin finanziell viel weniger stabil, als wenn ich in der Schweiz wäre. Mein Mann ist gesundheitlich stark angeschlagen, und das Gesundheitssystem ist eine Katastrophe. Einzelne Dinge sind nicht gut, das Ganze aber doch. Es ist gut für die Seele, und ich möchte nirgendwo anders sein. 

Dein Mann ist schwer nierenkrank.

Er hat eine genetisch bedingte Niereninsuffizienz, wie viele indigene Stämme in Mexiko. Victor wusste das nicht und wurde lange fehlbehandelt gegen Allergien. Als er einen Schlaganfall bekam, fiel auf, dass seine Nierenfunktion bei nur fünf Prozent lag. Es folgten acht Jahre Dialyse und eine Transplantation vor elf Jahren. Die Niere ist jetzt gut. Aber wegen der Medikamente hatte er zehn Jahre lang Vorhofflimmern. 2019 wäre er daran fast gestorben. 

Eine lange Leidensgeschichte, die hätte verhindert werden können, wenn die Diagnose früher gestellt worden wäre. Ist das der Grund, wieso du dich für die Schweizerische Nierenstiftung engagierst?

Ja. Die Niere ist ein total unterschätztes Organ, das oft übersehen wird. Um Herz und Lunge macht man sich eher Sorgen. Mein Mann strotzte vor Gesundheit, bis er 40 war, und auf einen Schlag brach alles zusammen. In den letzten Jahren habe ich gelernt, dass wir nicht alles unter Kontrolle haben. Und dass man das Leben geniessen sollte, solange man es hat. 

Ihr seid immer wieder mit dem Tod konfrontiert. Wie gehst du damit um?

Victors indigene Kultur geht davon aus, dass das Leben nach dem Tod ganz grossartig sein wird. Das ist brilliant. Er sagt: «Niemand weiss, was nach dem Tod ist, wieso also nicht das Beste annehmen.» Er malt mir den Ort, an den er gehen wird, als ein ganz weltliches Paradies aus. Mit vielen Frauen, von denen er schon eine Liste angelegt hat, mit Tequila und Tanz und gutem Essen. Ich möchte nicht, dass Victor leidet oder ewig in Krankenhäusern herumliegt. Aber dass er vermutlich vor mir sterben wird, damit habe ich Frieden geschlossen. Klar werde ich traurig sein, aber ich kann dann an ihn denken mit einem guten Gefühl. 

Du arbeitest gerade an einem neuen Roman. Verrätst du, worum es geht?

Die Hauptfigur ist Sofia, die bereits in meinen letzten beiden Romanen einmal als Kind und dann als Teenager in einer Nebenrolle aufgetaucht ist. Sie ist die Hauptfigur meines neuen Romans, der hoffentlich im Herbst erscheint. 

Wer viel schreibt, sitzt viel. Wie sorgst du für dich?

Ich mache Yoga, Pilates, gehe viel zu Fuss. Für amerikanische Verhältnisse essen wir auch recht gesund und kochen meist selbst. Bis ich 36 war, war ich eine totale Couch-Potato. Ich dachte, Leute, die Sport treiben, hätten das Leben noch nicht entdeckt. Wer würde sich das freiwillig antun? Irgendwann sprach mich eine Yogalehrerin auf der Strasse einfach an und schleppte mich mit in ihre Klasse. Ich dachte, ich spinne – das hat mich komplett überfordert. Doch diese Tonspur in meinem Kopf, dieser ständige Kommentar, war auf einmal ruhig, weil ich mich so konzentrieren musste. Dass mein Kopf 90 Minuten still war, war die Erleuchtung für mich. 

Was würdest du deinem jüngeren Ich heute sagen?

Hör auf dich. Mein jüngeres Ich hat viel mehr auf andere gehört als auf sich selbst. Das war oft ein Fehler. Frauen müssen als Mutter vieles tun, was für das Kind besser ist als für die Mutter selbst. Das ist völlig richtig so. Aber bei mir hat sich der Zustand des Mutterseins ausgedehnt auf alle möglichen erwachsenen Menschen. Ich hatte das Gefühl, deren Bedürfnisse seien wichtiger als meine. Das hat weder die anderen glücklich gemacht noch mich. 

Hast du einen Traum für die Zukunft?

Ich hätte gerne ein Haus am Meer, Enkel, einen langen Tisch unter einem Baum, an dem im Sommer alle zusammensitzen und essen. Ich habe viele Fantasien, aber ich bin nicht sehr zielorientiert und habe keinen Kalender, in dem ich eintrage, bis wann ich was erreicht haben will. Das ist mir fremd. Ich lebe einfach vor mich hin. 

Vielen Dank für das Gespräch.

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