Gehörlosigkeit: Abenteuer Kommunikation

Ein Gespräch über ein unsichtbares Handicap

Frau mit Haaren im Wind
Was mich als «Hörende» besonders interessiert: Wie klingt die Welt für Gehörlose? Ist es still?

Die Welt ist nicht still. Ich nehme gewisse Dinge nur einfach nicht wahr. So wie Sie bestimmt auch das Ticken einer Uhr nicht mehr wahrnehmen, sondern im Kopf einfach wegschalten. In meiner Gehörlosigkeit vermischen sich Hören und Fühlen. Ich «höre» mit Augen, Händen, Füssen, meinem Körper. Musik etwa spüre ich im Bauch, vor allem den Bass.

Wenn ich auf einem Holzboden stehe, spüre ich die Musik mit den Füssen. Nur die hohen Töne bleiben mir vorenthalten, die lassen sich nicht spüren. Beim Autofahren fühle ich am ganzen Körper den Motor vibrieren und wenn ich hupe, spüre ich einen durchdringenden Ton am Lenkrad.

Sie fahren Auto, ohne zu hören?

Aber hallo! Man braucht dazu eher die Augen. Ihr Hörenden hört laute Musik, da geht schon mal ein Blaulicht oder ein Martinshorn unter. Wir Gehörlosen nehmen Blaulichter und Lichthupen ganz schnell war. Autofahren ist kein Problem. Bahnhöfe hingegen schon: Wie oft habe ich nur noch die Schlusslichter meines davonfahrenden Zuges gesehen, weil eine Gleisänderung nur durchgesagt, aber nicht angezeigt wurde …

Sie sind von Geburt an gehörlos. Wusste Ihre Mutter sofort Bescheid, nachdem Sie geboren wurden?

Meiner Mutter fiel auf, dass ich als Baby kaum auf Geräusche oder Stimmen reagierte. Die Ärzte meinten, ich sei einfach spät dran mit meiner Entwicklung. Aber meine Mutter war skeptisch.

Eines Tages, ich war neun Monate alt, stellte sie sich hinter mich, sodass ich sie nicht sehen konnte und schüttelte kräftig mit einem Schlüsselbund neben meinem Ohr. Ich spielte seelenruhig weiter und zeigte keine Reaktion. Erst dann stellte der Kinderarzt die Diagnose: an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit.

Sie sind Bloggerin und leiten eine Lippenleseragentur. Wie haben Sie trotz Gehörlosigkeit so gut Schreiben gelernt?

Meiner Mutter setzte alles daran, dass ich Zugang zu Sprache bekam. Sie beschriftete Stühle, Tische und Lampen mit den jeweiligen Worten und liess sie mich nachsprechen. Ich malte Buchstaben nach und sie zeigte mir, wie der Buchstabe gesprochen aussieht. Dabei legte ich meine Hände an ihren Hals und spürte das Gesprochene. Dann legte ich meine Hand an meinen eigenen Hals und sprach das Gefühlte nach. So begann ich mit zweieinhalb Jahren zu lesen und zu schreiben. Meine Mutter machte Fotobücher und schrieb Erlebnisse in einfachen Worten neben die Bilder. Als Schulkind liess sie mich jeden Tag ein Diktat schreiben: Sie diktierte sehr langsam, ich schaute auf ihren Mund und schrieb das Gesprochene auf. So ist das Lippenlesen meine Art von Muttersprache geworden.

Haben Sie durch ein Hörgerät Zugang zum Hören bekommen?

Ja, ich bekam mit zwei Jahren ein Hörgerät. Heute trage ich ein Cochlea Implantat. Das ist eine Hörprothese, die bei Gehörlosigkeit in Frage kommt, wenn der Hörnerv noch funktionsfähig ist.

Wie kommunizieren Sie mit Ihrer Familie?

Per Lautsprache und teilweise in Gebärdensprache. Das ist kein Problem. Anstrengung pur hingegen sind für mich Gespräche mit Gruppen. Stimmen sind einfach schneller als Augen. So ein Gespräch ist für mich wie ein Schlagabtausch: Bis ich verstanden habe, worum es geht, sind die anderen schon drei Themen weiter. Das macht mich einsam und ich bleibe eher still. Wenn ich arbeite, bin ich weniger einsam – so sind Pausen mit Kollegen für mich viel anstrengender als das Arbeiten selbst.

Reagieren Mitmenschen oft irritiert oder unsicher?

Ich stelle am liebsten von Anfang an klar, dass ich gehörlos bin und von den Lippen lese. Viele Menschen verstehen meine Gehörlosigkeit sofort und stellen sich auf mich ein. Es gibt aber auch solche, die sich sofort abwenden. Bei einer Person war ich mal so genervt, dass ich sagte: «Machen Sie doch erst mal Ihre Ohren auf!» Und siehe da, sie verstand mich. Fast schon ein Wunder.

Was ist heute Ihre grösste Herausforderung?

Immer die Kommunikation. Ich bin als Gehörlose nicht nur von der Geräuschkulisse, sondern auch von der Informationsbeschaffung ausgeschlossen. Es gibt z. B. immer noch Filme ohne Untertitel oder Krankenkassenbriefe mit der Aufforderung, dort anzurufen. Wieso ist das Telefon so wichtig? Es gibt doch Internet und sehr gute Chat-Apps, mit denen man schriftlich kommunizieren kann.

Gehörlosigkeit ist unsichtbar. Und was man nicht sieht, vergisst man schnell. Hier ist noch viel Aufklärung nötig.

Herzlichen Dank für das Gespräch, Frau Harter.

«Taub» ist ein Begriff von gestern

In der Schweiz leben rund 10’000 gehörlose Menschen. Während früher oft von «Tauben» oder «Taubstummen» gesprochen wurde, hält der Schweizerische Gehörlosenbund diese Begriffe heute für falsch. Gehörlose sind nicht stumm. Sie können schreiben und sprechen und kommunizieren über die Gebärdensprache und verstehen über das Lippenlesen. Ihre Stimme klingt meist ungewohnt, was bei vielen Hörenden zu Irritation oder Berührungsängsten führt.

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