Spoiler
- Chronischer Schmerz ist ein Schmerz, der länger als drei Monate anhält oder immer wiederkehrt.
- Ein chronisch gewordener Schmerz ist eine eigenständige Erkrankung, die andere Therapien benötigt als ein akuter Schmerz.
- Um chronische Schmerzen zu lindern, reichen Schmerzmedikamente meist nicht aus, es braucht eine Kombination aus verschiedenen Therapien.
Was die Situation von Betroffenen zusätzlich erschwert ist, dass Schmerzen nicht messbar und für herkömmliche Diagnose-Methoden unsichtbar sind. «Es ist wichtig, zu wissen, dass chronische Schmerzen keine Einbildung sind» betont Martina Rothenbühler, Physiotherapeutin der Rheumaliga Schweiz und Fachberaterin für Schmerz. «Auch wenn man Schmerz von aussen nicht sieht, ist er immer real, auch wenn keine offensichtliche Verletzung oder Erkrankung erkennbar ist.» Um chronische Schmerzen zu lindern, braucht es jedoch andere Therapien als bei einem akuten Schmerz, denn ihre Entstehungsgeschichte ist etwas komplizierter.
Wie Schmerzen chronisch werden
Wieso Schmerz, wenn doch nichts kaputt oder krank ist? «Der chronische Schmerz entsteht häufig als Folge eines akuten Schmerzes, allerdings nicht immer», weiss Martina Rothenbühler. Obwohl die akute Verletzung lange vorüber ist, bleibt der Schmerz bei manchen Menschen ähnlich wie bei einem Schwelbrand bestehen. Der Schmerz wird chronisch. Kein Röntgenbild, kein Blutbild und kein MRT oder CT können einen Hinweis auf seine Ursache liefern. Denn die liegt möglicherweise im Nervensystem.
Von überempfindlichen Nerven und ungünstigen Zeitpunkten
Zur Chronifizierung von Schmerzen kann es zum Beispiel nach akuten Rückenschmerzen, bei Arthrose oder Migräne kommen. Wieso das bei manchen Menschen passiert und bei anderen nicht, hat vielfältige Gründe: Das kann Veranlagung sein, eine psychische Belastung oder das Zusammenfallen eines akuten Schmerzereignisse mit einem ungünstigen Zeitpunkt. Die Physiotherapeutin erklärt anhand eines Beispiels, wie man sich das vorstellen kann: «Angenommen jemand bricht sich einen Finger; ein unkomplizierter Bruch, der jedoch mit einer psychischen Krise oder Stresssituation zusammenfällt. Die Alarmsignale der Verletzung vermischen sich mit jenen der psychischen Belastung. Im Nervensystem wird der gebrochene Finger mit der Stresssituation verbunden und als grosse Gefahr abgespeichert. Wenn der Bruch zwar heilt, der Stress aber bleibt, kann dieser weiterhin Schmerz im Finger auslösen.»
Vom Schmerzgedächtnis – Nervensystem auf Irrwegen
Das Gehirn hat also etwas Falsches gelernt. Es hat den Schmerz am Finger mit der Stresssituation vermischt und sich dieses Muster eingeprägt. «Je öfter ein Schmerz passiert, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein sogenanntes Schmerzgedächtnis bildet. Durch die Neuroplastizität, die Möglichkeit von Hirn, Rückenmark und peripheren Nerven sich zu verändern, kann etwa ein Nerv oder ein Hirnareal sensibler werden. Der Schmerz wird dann schneller und häufiger ausgelöst.» Die gute Nachricht ist, dass eben diese Neuroplastizität der Schlüssel für die Therapie von chronischen Schmerzen ist. Das Schmerzgedächtnis kann auch wieder abgeschwächt oder vielleicht ganz gelöscht werden.
Chronische Schmerzen lindern und rückgängig machen
In der Schmerztherapie geht es also darum vorhandene Muster zu identifizieren und mit neuen zu überschreiben. «Was letztendlich hilft, um die chronischen Schmerzen zu lindern, ist ganz individuell», beschreibt die Physiotherapeutin. «Das können Entspannungsmethoden sein, Ablenkung oder eine Verhaltenstherapie. Eine ganz wichtige Rolle spielt die regelmässige Bewegung. Die verschiedenen Therapien können dem Gehirn beim Umlernen helfen. Als würde es eine neue Sprache üben, lernt es Schritt für Schritt, den Schmerz wieder abzuschalten.»
Chronische Schmerzen lindern und verhindern
Wenn ein Schmerz neu auftritt, der nicht einzuordnen ist und länger als drei Tage besteht, sollte ein Arzt aufgesucht werden. Es gibt sogenannte Yellow Flags, die eine Chronifizierung von Schmerzen fördern. «Dazu gehören eine schwierige soziale Situation, finanzielle Probleme, Druck am Arbeitsplatz oder einfach ein ängstlicher, pessimistischer Charakter. Es gibt aber auch Menschen, bei denen viele Yellow Flags vorliegen, die aber keinen chronischen Schmerz entwickeln», gibt die Expertin zu bedenken. Wichtig ist, diese Hintergründe zu beachten, wenn eine Erkrankung oder ein Unfall behandelt werden. Nach einem komplizierten Bruch etwa muss nicht nur der Knochen, sondern auch die Seele heilen. «Wenn ein psychisches Trauma unbehandelt bleibt, ist das Nervensystem im Alarmzustand. Eine Chronifizierung kann dann viel leichter passieren», erklärt Martina Rothenbühler.
Mehr Wissen, weniger Schmerzen
Die Physiotherapeutin empfiehlt Betroffenen, mit ihrem Körper im Dialog zu bleiben, mit dem Schmerz zu sprechen und sich zu fragen, was der Körper einem sagen möchte. Zudem hilft Wissen, die chronischen Schmerzen zu lindern. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass es positiv auf das Schmerzerleben wirkt, wenn man versteht, wie Schmerz funktioniert. So ist ein informierter und motivierter Patient die beste Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie. «Bewegung, Entspannung und Achtsamkeitstechniken sind immer Teil der Behandlung. Meist reicht aber eine Therapie allein nicht aus, es braucht einen multimodalen Ansatz», beschreibt die Schmerzspezialistin. Um chronische Schmerzen zu lindern, ist Geduld gefragt sowie die Hilfe verschiedener Fachpersonen. Das kann die Hausärztin sein, ein Schmerzpsychotherapeut, eine Physiotherapeutin oder auch ein Sozialberater. «Wenn unterschiedliche Therapeuten zusammenarbeiten, werden die besten Ergebnisse erzielt», so Martina Rothenbühler. Sie möchte Betroffene dazu motivieren, auf eine Art Spurensuche zu gehen nach allem, was die eigenen chronischen Schmerzen lindert. Über positive Erlebnisse wird das Nervensystem beim Erlernen neuer Muster unterstützt.
Lust mehr zu erfahren?
Die Broschüre «Schmerz verstehen. Chronifizierung vermeiden» der Rheumaliga Schweiz und der Autorin Martina Rothenbühler kann gratis im Shop der Rheumaliga bestellt werden. Sie ist auf Deutsch, Französisch und Italienisch erschienen.
Den Informationsfilm «Chronischer Schmerz – und wie damit leben lernen» vom Inselspital Bern kannst du hier ansehen.