AD(H)S als Erwachsener

Zwischen Chaos, Ablenkung und fantastischen Ideen

Frau im Grün

Spoiler

  • Frauen und Mädchen leben häufig mit einem nichtdiagnostizierten AD(H)S, denn die Symptome sind weniger auffällig als bei Männern und Jungs.
  • Ob Medikamente sinnvoll sind, machen Experten vom individuellen Leidensdruck abhängig.
  • AD(H)S hat auch gute Seiten: Es gibt Therapien, durch die Betroffene lernen, gut mit ihren Symptomen zu leben.

Viele Betroffene leben seit der Kindheit mit dem Gefühl, verpeilt zu sein: zu laut, zu dumm, zu impulsiv, zu unsortiert. «Wird dann irgendwann die Diagnose AD(H)S als Erwachsener gestellt, entsteht zum einen Verständnis für die Besonderheiten, mit denen sie seit der Kindheit leben. Zum anderen manchmal auch ein Hadern damit, was gewesen wäre, wenn man das früher festgestellt hätte», erklärt Dr. med. Swantje Matthies, Oberärztin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Freiburg. Sie leitet die Spezialsprechstunde AD(H)S und beschäftigt sich seit Jahren mit der Entwicklungsstörung. 

Fernbedienung im Kühlschrank

Dass AD(H)S auch als Erwachsener vorkommt und nicht nur zappelige oder verträumte Kinder betrifft, ist auch dadurch bekannt geworden, dass Prominente wie Emma Watson oder Jan Ullrich öffentlich davon berichten, wie es ist, mit der Erkrankung zu leben.

Viele Erwachsene stellen aber auch erst durch die Diagnose ihres Kindes fest, dass sie selbst betroffen sind. Ein typisches Symptom ist die Unaufmerksamkeit: Menschen mit AD(H)S sind leicht ablenkbar, finden es schwer, den Fokus zu halten und dabeizubleiben. Sie sind zerstreut, verlegen Dinge, finden etwa die Fernbedienung im Kühlschrank wieder. Dann gibt es den Bereich der hyperaktiv-impulsiven Symptome: «Betroffene sind ständig in Bewegung, angespannt, nervös, wie durch einen inneren Motor angetrieben. Sie reden viel, unterbrechen andere oder handeln, ohne die Folgen zu bedenken», beschreibt Dr. Matthies. 

AD(H)S als Erwachsener: Frauen seltener diagnostiziert

Im Schnitt zeigen Männer mehr hyperaktiv-impulsive Symptome und Frauen eher solche aus dem unaufmerksamen Bereich: Mit ihrer Verträumtheit und Vergesslichkeit fallen sie weniger stark auf und werden erst spät oder gar nicht diagnostiziert. Während sich bei Kindern die Symptome unverstellt zeigen, haben Erwachsene gelernt, ihre Symptome zu vertuschen und sich anzupassen. Ein ständiger Kraftakt, der oft nicht folgenlos bleibt. «50 Prozent aller AD(H)Sler entwickeln im Laufe ihres Lebens eine psychische Erkrankung», weiss Dr. Matthies. Häufige Folgen für Frauen sind Selbstwertprobleme, das Gefühl zu versagen, Depression und Ängste. «Männer gehen häufig mit ihren Symptomen selbstwertdienlicher um. Sie sagen sich etwa ‹Ich bin ein spontaner Typ, ich will meinen Urlaub gar nicht planen›. Aber auch Männer entwickeln Folgeerkrankungen. Nicht selten sind es Süchte oder Depressionen. Auch Übergewicht und Schlafstörungen treten im Zusammenhang mit AD(H)S auf.

Good to know: Fakten

AD(H)S-Medikamente wie z. B. Methylphenidat haben Einfluss auf den Dopaminübertragungsweg im Gehirn und verbessern so rasch die Symptomatik.

Wieso das (H)? 80 % der Betroffenen sind hyperaktiv und verträumt. 10 % sind nur hyperaktiv, 10% nur verträumt. Zu diesen 10 % gehört kein H.

Eine Modeerscheinung? Nein, es ist eine von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) anerkannte psychische Erkrankung. 

Die Digitalisierung ist schuld? AD(H)S hat eine genetische Ursache. Ein Lebensstil mit wenig Bewegung und hohem Medien- und Fernsehkonsum kann die Symptomatik jedoch verstärken.

Fehlendes Dopamin

Die Ursache für AD(H)S als Erwachsener ist zu einem grossen Teil erblich. Um die Diagnose zu sichern, schauen sich Fachpersonen das individuelle Bild der Symptomatik an. Inzwischen weiss man, dass das Gleichgewicht der Botenstoffe im Gehirn verändert ist. Hier setzt die medikamentöse Therapie an, die immer wieder kontrovers diskutiert wird. Besonders bei Kindern wird immer wieder kritisiert, dass ihnen Medikamente gegeben würden, damit sie den Forderungen von Schule und Gesellschaft besser entsprechen können. Für Dr. Matthies ist der individuelle Leidensdruck Grund für eine medikamentöse Therapie, deren Einsatz sehr bewusst und sorgsam abgewogen werden sollte: «Viele Kinder leiden oder werden gar depressiv, weil es in der Schule nicht klappt, obwohl sie kognitiv die Fähigkeiten hätten. Viele meiner erwachsenen Patienten berichten von der Erleichterung, plötzlich klar denken, Gesprächen folgen und Gedanken ordnen zu können.» Das Medikament wird regelmässig eingenommen, um eine stabilere Aufmerksamkeitsregulation herzustellen. «Ein Künstler mit AD(H)S kann während seiner Schaffensphase möglicherweise besser ohne das Medikament kreativ sein. In einer Arbeitsphase, die Struktur und Planung erfordert, hilft ihm das Medikament.»

AD(H)S als Erwachsener: fantastisches Chaos

AD(H)Sler sind oft kreativ, empathisch und fantasievoll. Sie sehen die Welt bunt, dynamisch und voller Wunder. Auch wenn diese unsortierte Grossartigkeit sie selbst manchmal überfordert, hat sie eine Menge positiver Seiten. Verhaltenstherapien und Achtsamkeitstraining helfen bei AD(H)S als Erwachsener, sich selbst besser zu kennen, eigene Grenzen zu achten und zu lernen, die positiven Seiten zu geniessen und die herausfordernden in Zaum zu halten. «Eltern betroffener Kinder sollten vor allem Verständnis zeigen. Statt Vorwürfen wie ‹Du bist einfach faul› sind Aussagen wie ‹Das ist auch schwer mit den Hausaufgaben. Wie können wir das gemeinsam hinkriegen?› sinnvoller sein. Letztendlich ist die AD(H)S eine Besonderheit, die einiges leichter und manches schwerer macht», so Dr. Matthies.

Zahlen auf einen Blick

2-4,5 %

Der Erwachsenen leiden an AD(H)S.

50 %

Aller AD(H)Sler entwickeln im Laufe ihres Lebens eine psychische Erkrankung. 

4:2

Ist das Verhältnis Jungs zu Mädchen bei betroffenen Kindern.

2:1

Ist das Verhältnis Männer zu Frauen bei Erwachsenen.

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