Mädchen ohne Mut 

Die junge Perspektivlosigkeit

Spoiler

  • Ein neues Phänomen ist aufgetaucht. Es nennt sich «mutlose Mädchen».
  • Mädchen wachsen mit der Selbstverständlichkeit auf, verschiedene Rollen verbinden zu müssen. Z.B. Familienköchin, erfolgreiche Karrierefrau oder fürsorgliche Tochter.
  • Dieses Jonglieren verschiedener Rollen belastet. Die Mädchen entscheiden, dass sie so nicht leben wollen. Das Ergebnis? Mutlose, achselzuckende Mädchen.
Was zeichnet mutlose Mädchen aus? 

Die tiefe Ratlosigkeit, die sie auf Schritt und Tritt begleitet. Für diese Mädchen wirkt das Leben kalt und eintönig. Sie stehen achselzuckend im Hier und Jetzt. Zukunftsziele sind ein Fremdwort, eine innere Leere hat überhand genommen, die eigene Courage ist abhandengekommen. 

Die Courage wofür?

Um weiterzumachen im Leben. Das ist das Interessante: Die Mehrheit der Menschen ist davon überzeugt, dass Mut nur in ganz besonderen Situationen gebraucht wird. Aber Mut ist nichts Aussergewöhnliches – Mut steht am Anfang jeden Handelns. Man braucht ihn Tag für Tag bei allen Entscheidungen. Mut macht uns lebensfähig. 

Und woher kommt die Mut- und Perspektivlosigkeit der Mädchen? 

Eine zentrale Ursache ist das Fehlen weiblicher Vorbilder. Richten die Mädchen den Blick auf ihre Mütter, dann tritt heute oft folgende Frau ins Scheinwerferlicht: Erfolgreich im Job, fürsorglich zur Familie, gesundheitsorientiert beim Kochen und die verlässliche Schultaxifahrerin. Kurz gesagt: ein unentwirrbarer Knäuel verschiedener Rollen. Und was den Knäuel zusammenhält, sind Stress, Erschöpfung und Überforderung. Das soll jetzt auf keinen Fall bedeuten, dass die modernen Mütter etwas falsch machen. Die Mädchen schliessen lediglich aus ihren Beobachtungen und treffen für sich die Entscheidung: In so einer Welt möchte ich nicht leben.

Die neue Frauenrolle wirkt abschreckend auf die Mädchen?

Ohne Zweifel. 70 Jahre Emanzipation sind gescheitert, der Leistungsdruck für junge Frauen ist enorm gestiegen. Verschiedene Rollen müssen jetzt unter einen Hut gequetscht werden. So wachsen die Mädchen mit der Selbstverständlichkeit auf, diese Vielseitigkeit verbinden zu müssen. Gleichzeitig findet aber eine Abwertung von Mütterlichkeit und Weiblichkeit in der Gesellschaft statt, in der «bloss» Mutter oder Hausfrau zu sein keine Alternative mehr darstellt. Weil die Frau von heute alles sein und verbinden kann, scheint es keine aussergewöhnlichen Optionen mehr zu geben. 

Ganz anders beim Mann.

Genau. Entscheidet sich ein Vater dazu, ein «Stay-at-home-Dad» zu sein, gilt das sofort als aussergewöhnliche Option, die von der Gesellschaft gefeiert wird. Generell schleppen Männer weniger Stereotypen mit sich, weswegen es auch wesentlich weniger mutlose Jungs gibt. Die Zahl der mutlosen Mädchen hingegen hat in den letzten fünf Jahren stetig zugenommen. Das beobachte ich in meiner Praxis, in der diese jungen Patientinnen etwa fünf bis zehn Prozent meiner Klientel ausmachen.

Wie ist das behandelbar?

Wir stehen noch am Anfang – einfach ist es nicht. Obwohl die Mädchen einen depressiven Eindruck machen, handelt es sich nicht um eine psychische Depression. Darum schlägt eine medikamentöse Behandlung nicht an. Wir wissen, dass man die Mädchen auf keinen Fall drängen darf. Eltern möchten gern lösungsorientiert an die Sache herangehen und machen unzählige Vorschläge. Für das Kind ist das zu viel. Deshalb: Babysteps. Als Zweites darf man den Glauben an das Kind nie verlieren und muss ihm viel Geduld und Verständnis schenken. Vor allem, wenn es etwa nicht mehr in die Schule möchte. Das ist leichter gesagt als getan. Hier muss man Vertrauen in das Kind haben und wissen, dass Entwicklungspotenzial immer da ist und sich durch professionelle Hilfe – die man sich unbedingt holen sollte – auch entfalten kann.  

Und was können Schulen tun?

Für ein zurückgezogenes Mädchen sind Schulen der tägliche Catwalk der Überforderung. Ich würde mir da ein flexibleres System wünschen, in dem es möglich ist, teilweise Homeschooling zu machen oder die Mädchen online am Unterricht teilhaben zu lassen, damit sie sich wohler fühlen und ihre Pausen auch zur maximalen Erholung nutzen können.  

Vielen Dank für das Gespräch.
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