Krankhafte Zwänge
Bei Zwangsstörungen, auch bekannt als OCD (obsessive compulsive disorder), handelt es sich um eine schwere psychische Erkrankung, die für Betroffene sehr belastend sein kann. Sie umfasst überwiegend Zwangshandlungen, also Tätigkeiten, welche immer wieder ausgeführt werden müssen, sowie Zwangsgedanken, die sich nicht abschütteln lassen. Ein bisschen davon steckt in jedem von uns in Form von Ritualen und Aberglauben, daher ist der Übergang zur Diagnose OCD fliessend und nicht immer klar abzugrenzen. Beschäftigt man sich mehr als eine Stunde pro Tag mit den Zwängen, verursachen sie weitere Erkrankungen wie beispielsweise Depressionen oder wird die Funktionsfähigkeit im Alltag beeinträchtigt, sodass ein Leidensdruck entsteht, gilt dies als Zwangserkrankung.
Patienten ist häufig vollkommen bewusst, dass ihre Gedanken und Handlungen irrational sind, dennoch können sie diese nicht kontrollieren. Meistens ist Angst der Auslöser und sie befürchten, dass ihnen selbst oder Angehörigen etwas Schlimmes zustösst, wenn sie dem Druck nicht nachgeben. Werden Zwangshandlungen ausgeführt, erleichtert das für den Moment das Angstgefühl. Dennoch wehren sich viele Betroffene dagegen, indem sie Gedanken unterdrücken oder Ritualen nicht nachkommen. Es kommt zu einer Verzerrung der Wahrnehmung, denn jeder Input wird so aufgenommen, dass er die Zwänge weiter füttert – die Aufmerksamkeit richtet sich auf potenzielle Gefahren und die Einschätzung, dass durch Rituale schlimme Ereignisse verhindert werden können, ist unrealistisch hoch.
Zwangsgedanken: Karussell im Kopf
Unterschieden wird zwischen Zwangshandlungen und Zwangsgedanken. Bei letzteren handelt es sich um sich wiederholende Ideen, Vorstellungen und Gedanken, welche nicht kontrollierbar sind. Man kann solche Gedanken nicht nicht denken und sie beinhalten häufig bedrohliche oder verunsichernde Szenarien. Strategien zur Ablenkung wie Zählen oder bewusste neutrale Gedankenketten funktionieren meistens nicht und führen dann zu Zwangshandlungen. Oft widersprechen Zwangsgedanken dem Wertesystem Betroffener: So gibt es beispielsweise die wiederkehrende Vorstellung, eine Gewalttat ausüben zu müssen. Eine damit einhergehende Angst besteht darin, diese Gedanken irgendwann in die Tat umzusetzen und einer anderen Person Schaden zuzufügen. Jedoch ist die Sorge unbegründet, denn bisher sind keine Fälle bekannt, in denen derlei Zwangsgedanken ausgelebt wurden.
Rituale, die ausgeführt werden müssen: kurzfristige Erleichterung durch Zwangshandlungen
Oftmals ausgelöst durch Zwangsgedanken, erfolgen Zwangshandlungen. Aus der Angst vor einer Ansteckung und um die körperliche Gesundheit resultieren beispielsweise Reinigungs- und Waschzwänge. Die sich wiederholenden Verhaltensweisen laufen meist nach einem festgelegten Muster ab und zielen darauf ab, die Zwangsgedanken zu neutralisieren. Vielen Erkrankten ist dabei vollkommen klar, dass ihre Reaktion übertrieben und irrational ist. Zwangsstörungen sind sehr facettenreich und zeigen sich in vielfältigen unterschiedlichen Ausprägungen. Ausserdem kann lediglich ein bestimmter Zwang vorliegen oder genauso gut eine ganze Reihe an unterschiedlichen Zwängen. Was alle Patienten gemeinsam haben? Gedanken und Impulse, die sie nicht kontrollieren können. Den grössten Anteil aller Fälle machen Reinigungs- und Waschzwänge aus, gefolgt von Kontroll-, Zähl- und Sammelzwängen.
Reinigungs- und Waschzwänge
Die grosse Angst vor Verunreinigungen, Krankheitserregern und Körperflüssigkeiten, die sogenannte Kontaminationsangst, veranlasst Zwangshandlungen zur akribischen Reinigung des Körpers und der Umgebung. Besonders schlimm sind Kontakte mit kranken Personen sowie verunreinigten Orten, die Betroffene glauben machen, dass sie sich infiziert hätten oder nicht sauber seien. Daraus resultieren unter Umständen stundenlanges Händewaschen, Duschen, Putzen und Desinfizieren. Wird das Ritual unterbrochen, muss erneut von vorn begonnen werden. Leider hat genau dieses Verhalten einen gegenläufigen Effekt: Das starke Säubern schwächt die Hautbarriere und die keimfreie Umgebung das Immunsystem, sodass es Viren und Bakterien leichter haben. Damit die Rituale gar nicht erst ausgelöst werden, isolieren sich Betroffene häufig. Denn werden die Sozialkontakte stark reduziert und die Wohnung nicht mehr verlassen, sinkt das Risiko einer Kontamination. Darüber hinaus ist die Thematik schambehaftet, denn das Bewusstsein für die Unsinnigkeit des eigenen Verhaltens ist vorhanden. Die Reinigungszwänge zeigen sich erstmals bereits bei Teenagern beziehungsweise zwischen 20 und 22 Jahren. Werden sie nicht behandelt, verstärken sie sich schleichend, da ein Ausstieg ohne professionelle Hilfe fast nicht möglich ist. Die kognitive Verhaltenstherapie hat sich bewährt: Patienten werden mit ihren Ängsten konfrontiert, indem sie Dinge anfassen und sich vermeintlich kontaminieren müssen, ohne sich danach zu waschen. Da der Kontakt zu fremden Bakterien ohne schlimme Folgen bleibt, entsteht eine gewisse Toleranz und die Ängste nehmen ab.
Kontrollzwänge
Am zweithäufigsten kommen Zwangshandlungen zur Kontrolle von Situationen vor: Betroffene haben die Sorge, dass etwas Furchtbares passiert, weil sie etwas versäumt oder vergessen haben. Das Haus könnte brennen, wenn der Ofen noch an ist oder ein geöffnetes Fenster würde dazu führen, dass man ausgeraubt wird. Die eigenen vier Wände können nicht verlassen werden, bevor nicht alles kontrolliert wurde. Und auch dann trauen sie ihrer eigenen Wahrnehmung nicht und müssen erneut nachkontrollieren. Dadurch ist es sehr schwierig, pünktlich das Haus zu verlassen. Hier können Familie und Freunde helfen, die nochmals alles bestätigen und einen Teil der Verantwortung übernehmen. Im Beruf zeigen sich solche Zwangshandlungen ebenfalls, denn aus Angst vor Fehlern werden alle Arbeitsschritte, selbst Routinetätigkeiten, mehrfach überprüft. Der Leidensdruck ist enorm hoch, doch die Prognose bei einer Therapie sehr gut. Genau wie bei Reinigungszwängen helfen die Konfrontation mit den Ängsten und die Erkenntnis, dass nichts passiert. Zudem wird das Selbstvertrauen gestärkt und Patienten lernen, sich auf ein gesundes Mass an Kontrollhandlungen zu beschränken.
Zähl- und Wiederholzwänge
Beim Zählzwang haben Erkrankte den Impuls, Gegenstände in ihrer Umgebung immer wieder zu zählen. Das können Pflastersteine, Deckenpaneele oder Fliessen, Bücher oder alle anderen Dinge sein, die ins Auge fallen.
Auch beim Wiederholzwang geht es um Zahlen: Zwangshandlungen müssen mit einer bestimmten Anzahl wiederholt werden, ansonsten befürchten Betroffene ein Unglück. Sie fühlen sich nicht wohl und die Anspannung kann sich nicht abbauen, solange diese Anzahl nicht erreicht wurde.
Sammel- und Ordnungszwänge
Bei Personen mit Sammelzwang stapeln sich Dinge teilweise meterhoch in der Wohnung – aus Angst, versehentlich etwas Wichtiges wegzuwerfen, behalten sie alles. Die Unterscheidung zwischen Brauchbarem und Abfall ist teilweise nicht mehr möglich und kaputte Sachen werden für eine etwaige Reparatur gesammelt. Nicht selten kommt es zur Verwahrlosung Betroffener, die man auch als «Messies» kennt: eine häufig abschätzige Bezeichnung, die sich aus dem englischen Wort «mess» für Chaos/Durcheinander ableitet.
Dieser Gruppe gegenüber steht der Ordnungszwang. Hier zählen strenge Regeln und Massstäbe und die kleinste Unordnung macht Betroffene unruhig. Teilweise werden mehrere Stunden am Tag damit verbracht, die Ordnung wiederherzustellen und alles penibel aufeinander zu stapeln oder einzusortieren.
Skin Picking
Zwangshandlungen, die unter das Bearbeiten der Haut fallen, sind als Skin Picking oder Dermatillomanie bekannt. Dazu gehört der unwiderstehliche Drang, an der Haut zu kratzen, knibbeln, drücken, zupfen oder quetschen. Das Aufkratzen von Krusten, Ausdrücken von Unreinheiten oder Kauen der Nagelhäute sieht man häufig. Als pathologisch eingestuft wird es, wenn Skin Picking sehr lange und intensiv, nicht mehr kontrollierbar oder auch in unpassenden Situationen betrieben wird, sodass ein Leidensdruck entsteht, denn die Haut so zu beschädigen geht mit Schuldgefühlen und Selbstabwertung einher. Betroffene sind ständig gefangen zwischen dem Bedürfnis nach dem befriedigenden Gefühl, das durchs Knibbeln entsteht, und dem Wunsch, die Haut nicht langfristig zu schädigen.
Therapie von Zwangshandlungen
Viele Zwangsstörungen können mit einer Therapie erfolgreich reduziert und so die Lebensqualität von Patienten deutlich erhöht werden. Neben einer medikamentösen Behandlung hat sich bei Zwangshandlungen insbesondere die kognitive Verhaltenstherapie bewährt.
Unterstützung finden
Leidest du unter Zwängen, die deinen Alltag belasten? Oder hat eine Person in deinem Umfeld Schwierigkeiten? Auf den folgenden Seiten findest du weitere Informationen für Betroffene und Angehörige: