Schielen bei Kindern – was Eltern darüber wissen sollten

Vorübergehend oder dauerhaft?

Schielen Kinder: Kleiner schielender Junge sitzt im Gras

Spoiler

  • In den ersten drei Lebensmonaten schielen viele Neugeborene, da sich die Augenmuskulatur erst entwickelt.
  • Schielen ist eine Fehlstellung der Augen, aus der sich unbehandelt eine Störung des räumlichen Sehens entwickeln kann.
  • Je früher Strabismus erkannt wird, desto höher sind die Heilungschancen. Zur Behandlung des Schielens bei Kindern gibt es verschiedene Therapien sowie eine spezielle Operation.
  • Nicht immer ist Schielen für Laien zu erkennen. Unser Experte empfiehlt daher ein Check-Up beim Augenarzt, gerade wenn es bereits Schielerkrankungen in der Familie gibt.
Herr Dr. Eisenack, tasten wir uns langsam an die Materie heran: Was ist Schielen überhaupt?

Schielen, in der Fachsprache: Strabismus, bezeichnet die Fehlstellung der Augen zueinander. Besteht dieses Schielen bei Kindern über einen längeren Zeitraum hinweg, kann sich eine Störung der Binokularität, also des räumlichen Sehens, entwickeln.

Wie äussert sich diese Fehlstellung der Augen?

Ganz einfach formuliert: Blicken beide Augen nach aussen, haben wir es mit einer Exotropie zu tun; richten sich beide Augen nach innen, liegt eine Esotropie vor. Entscheidend ist, ob das Schielen manifest ist, also durchgängig besteht, oder nur gelegentlich auftaucht. Ändert sich der Schielwinkel je nach Blickrichtung, sprechen wir von einem inkomitanten, durch eine Augenmuskellähmung verursachten Schielen.

Weil wir eingangs von Babys sprachen: Welche Schielform ist bei ihnen am weitesten verbreitet?

Mit Abstand am häufigsten tritt das frühkindliche Schielsyndrom auf, das Kinder direkt nach der Geburt oder in den ersten Lebensmonaten betrifft. Es kennzeichnet sich durch eine grosswinklige Esotropie. Als Ursachen für angeborenes Schielen gelten neben einer frühen Geburt vor allem ein geringes Geburtsgewicht oder Vorbelastungen innerhalb der Familie.

Kann man gegen das Schielen bei Kindern etwas tun?

Und ob! Je früher die Störung erkannt wird, desto grösser sind die Chancen auf Heilung. In einigen Fällen genügt eine individuell an den kleinen Patienten angepasste Therapie; in anderen Fällen ist eine spezielle Operation nötig, um dem Schielen nachhaltig Herr zu werden.

Besorgte Eltern sollten also möglichst früh einen Arzt konsultieren?

Ja, absolut! Gerade in der sensitiven Phase von der Geburt bis zur Einschulung entwickeln sich wichtige kortikale Vernetzungen zwischen den Augen und dem zerebralen Sehzentrum im Gehirn. Diese Strukturen lassen sich später nicht mehr verändern. Ganz drastisch formuliert: Wird ein Schielen im Kindesalter übersehen, kann dies zum Verlust der Stereopsis und zu Amblyopie führen. Greift man jedoch rechtzeitig ein, kann man die visuelle Entwicklung effektiv steuern.

Für uns Laien: Was versteht man unter einer Amblyopie?

Hinter Amblyopie (von griechisch «ἀμβλύς» stumpf und «ὅψις» Auge) verbirgt sich eine nicht-organische Sehschwäche, die durch eine unzureichende Entwicklung des visuellen Systems ausgelöst wird. Vor allem in den ersten Lebensjahren lässt sich eine derartige Sehschwäche sehr gut behandeln. Das normalsichtige Auge wird dabei mit einem Pflaster abgeklebt.

Zurück zum Schielen bei Kindern. Auch als Laie lässt sich das doch gut erkennen, oder?

Leider nicht. Klar, in vielen Fällen ist das Schielen nicht zu übersehen. Da braucht man kein Fachmann sein, um zu wissen, dass etwas nicht stimmt. Dann wieder gibt es Kinder, die auf ihre Eltern völlig unauffällig wirken. Die Fehlstellung fällt bei ihnen so minimal aus, der Schielwinkel ist derart klein, dass nur ein Experte die Diagnose «Schielen» stellen wird. Das ist das Hinterhältige am Mikrostrabismus! Je unscheinbarer die Fehlstellung, desto später wird sie entdeckt – und desto geringer sind die Erfolgsaussichten einer Therapie.

Dann vereinbare ich am besten vorbeugend einen Termin beim Kinderaugenarzt?

Ich würde allen Eltern dringend dazu raten. Klar, in der Schweiz werden die Kinder regelmässig vom Pädiater untersucht; dabei wird auch die Sehkraft beurteilt. Die Kinderärzte machen einen grandiosen Job! Sie sind aber keine Experten, wenn es um Augen geht. Daher sollten gerade Familien, in denen Schielerkrankungen weit verbreitet sind, ihren Schützling möglichst früh von einem Kinderaugenarzt durchchecken lassen.

Wenn man von kosmetischen Aspekten einmal absieht: Welche Beschwerden versursacht ein Strabismus?

Viele Menschen leiden an einem versteckten Schielen, das aufgrund guter Kompensationsmechanismen keine Probleme verursacht; eine Behandlung erübrigt sich deshalb. Bereitet die Kompensation des Schielens im Alltag aber grosse Anstrengungen, kann eine sogenannte Asthenopie entstehen. Hierunter fallen unterschiedliche Symptome, angefangen bei müden oder gar schmerzenden Augen über Motivations- und Konzentrationsprobleme bis hin zu chronischen, vor allem am Abend auftretenden Kopfschmerzen. Eine genaue Abklärung ist wichtig, um mittels geeigneter Methoden (Brille, Augenmuskeloperation etc.) wieder Beschwerdefreiheit zu erreichen.

Nehmen wir an, bei meinem Kind wurde ein Strabismus entdeckt. Wann ist es Zeit für eine Operation?

Pauschal lässt sich diese Frage nicht beantworten. Wir müssen das individuell entscheiden und intensiv mit den Eltern diskutieren. Geht es «nur» um eine kosmetische Verbesserung des Strabismus, ist der Zeitpunkt kurz vor der Einschulung am besten geeignet. Auf diese Weise vermeiden wir, dass Kinder von den Klassenkameraden wegen des Schielens gemobbt werden. Droht jedoch zum Beispiel ganz akut der Verlust des Binokular-Sehens, wie es beim normosensorischen Schielen der Fall ist, dann sollte zügig eine Operation erfolgen. Im Vorfeld einer solchen schliessen wir im Rahmen umfangreicher augenärztlicher Untersuchungen aus, dass okuläre, sprich organische Ursachen wie beispielsweise Netzhauterkrankungen vorliegen. Auch an Erkrankungen aus dem neuro-ophthalmologischen Bereich muss gedacht werden. Zuweilen ist darüber hinaus eine Bildgebung vom Kopf (MRI) sinnvoll, um zerebrale Pathologien wie einen erhöhten Hirndruck oder einen Tumor nicht zu übersehen.

Wenn es so weit ist: Was passiert bei einer Schieloperation?

Vor der Operation messen wir zunächst den Schielwinkel; dafür sind meist mehrere Untersuchungen nötig. Eine etwaige Amblyopie sollte zu diesem Zeitpunkt bereits therapiert sein, damit an beiden Augen eine gute und stabile Sehkraft vorliegt. Bei der Operation, die ich in Vollnarkose und ambulant am Kinderspital Zürich anbiete, werden dann in der Regel zwei separate Augenmuskeln in ihrer Lage und/oder Länge so verändert, dass nachher wieder ein möglichst stabiles Zusammenspiel beider Augen besteht.

Und in der Zwischenzeit: Wie können Eltern ihre schielenden Kinder unterstützen?

Neben einer guten augenärztlichen und pädiatrischen Betreuung ist die soziale Komponente entscheidend. Kommt es in Kindergarten und Schule zu Mobbing, sollte dieses früh und intensiv mit den Pädagogen thematisiert werden. Daneben kann auch eine gezielte Förderung, beispielsweise im Bereich der Logopädie und der Physiotherapie, hilfreich sein: Auf diese Weise wird eine Mehrfachbelastung der kindlichen Entwicklung vermieden. Kurz gesagt: Stärken Sie Ihrem schielenden Kind den Rücken – und bringen Sie es zu einem Experten.

Vielen Dank für dieses Gespräch.
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