Enge und erweiterte Widerspruchslösung bei der Organentnahme

Gesinnungswandel und Paradigmenwechsel

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Sowohl bei dieser heute praktizierten Regelung als auch bei der nun zur Debatte stehenden Erweiterter-Widerspruchs-Regelung entscheiden die Angehörigen stellvertretend für den Patienten / die Patientin, sofern dieser/diese zur Zeit der Urteilsfähigkeit eine Organentnahme nicht abgelehnt hat. In der Praxis unterscheiden sich darum aus meiner Sicht die Erweiterte-Zustimmungs- und die Erweiterter-Widerspruchs-Regelung nicht.

Gleichwohl vollzöge sich damit ein Paradigmenwechsel, den bereits die Revision des Transplantationsgesetzes 2017 eingeleitet hat: Bei der Erweiterte-Zustimmungs-Regelung muss der Staat die Einwilligung der Angehörigen einholen, bei der vorgeschlagenen Regelung des erweiterten Widerspruchs müssten die Angehörigen begründen, warum sie den Patienten / die Patientin nicht zur Organentnahme freigeben wollen. Sich Organe entnehmen zu lassen, wäre damit kein persönliches Entgegenkommen mehr, sondern der Staat beanspruchte das Recht auf die Organe seiner Bürger. Die Zustimmung zur Organentnahme würde zur moralischen Pflicht des Einzelnen und verlöre den Spendencharakter. Nicht wie bis jetzt der Anspruch auf Autonomie und Integrität, d. h. die Selbstbestimmung und der Schutz des Individuums, sind bei der Widerspruchsregelung selbstverständlich, sondern die Bereitschaft des Menschen, in einer austherapierten Situation auf der Intensivstation seine Organe nach dem von selbst eingetretenen oder kontrollierten Hirntod für andere nutzen zu lassen. Bei der Enger-Widerspruchs-Regelung stellt sich zudem die Frage, was mit Menschen geschieht, die nie urteilsfähig waren, wie z. B. solchen mit einer geistigen Behinderung.

Die Schweizer Verfassung basiert auf der Würde des Menschen (Artikel 8 BV). Mit dieser einher geht der Anspruch jedes Menschen auf Autonomie und Integrität (Artikel 10 BV), der als Abwehrrecht jedes Menschen sich wie ein roter Faden durch alle Gesetze in der Schweiz zieht und das Individuum vor einer Instrumentalisierung schützen soll. Er bildet auch den Kern der Menschenrechtscharta, die nach dem Zweiten Weltkrieg am 10. Dezember 1948 verabschiedet wurde. Jede medizinische Massnahme bedarf in der Schweiz der Einwilligung der betreffenden Person oder bei Urteilsunfähigkeit ihrer Stellvertretung. Nur in Notsituationen oder bei Fremdgefährdung geht man stillschweigend von der Einwilligung zur Behandlung zum Wohle des Patienten/der Patientin selbst aus und darf damit die Integrität eines Menschen verletzen.

Bei den Vorbereitungen zur Organentnahme und dieser selbst ohne sichere Kenntnis des Patientenwillens wird bereits heute in der Praxis der Erweiterte-Zustimmungs-Regelung in Kauf genommen, dass Menschen Organe entnommen werden, die dies vielleicht nicht gewollt hätten. Mit der Einführung der Regelung des engen oder des erweiterten Widerspruchs vollzöge sich bei der Transplantationsmedizin ein Gesinnungswandel und Paradigmenwechsel: «Nutzen statt Würde.»


Dr. theol. Ruth Baumann-HölzleRuth Baumann-Hölzle ist Mit­be­grün­de­rin und Lei­te­rin des «In­ter­dis­zi­pli­nä­ren In­sti­tuts für Ethik im Ge­sund­heits­we­sen» der Stif­tung Dia­log Ethik. Sie ist Ex­per­tin für Ethik in Or­ga­ni­sa­ti­onen und in der Ge­sell­schaft.

 

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