Darmkrebs

Das Lynch-Syndrom: ein Betroffener erzählt

Jürgen Castano hat eine genetische Veranlagung für Dickdarmkrebs

Spoiler

  • Das Lynch-Syndrom ist ein erblich bedingte Form des Dickdarmkrebses.
  • Kennzeichnend sind familiär gehäuft auftretende Krebsarten, die nicht auf den Darm beschränkt sein müssen.
  • Durch Multi-Gentests lässt sich eine genetische Veranlagung frühzeitig erkennen.

Mein Gespräch mit Jürgen Castano findet vier Monate nach seiner letzten Operation statt. Er leidet an dem Lynch-Syndrom. Zuletzt ist eine Metastase in seiner Bauchwand förmlich «explodiert», wie der 68-Jährige es beschreibt. Blitzschnell hatte sie sich vergrössert. Gutes Timing für dieses Gespräch ist wohl etwas anderes: Vor drei Tagen haben Castanos Ärzte erneut etwas gefunden. Diesmal eine von Krebszellen befallene Lymphdrüse.

Jürgen Castano hat es mit einem besonderen Krebs zu tun. Einem Gewohnheitstäter, könnte man sagen. Denn sein Lynch-Syndrom – auch: hereditärer, Nicht-polypöser Darmkrebs (HNCCP) – tritt meist wiederholt auf. Als sei dies nicht genug: Wie bei Castano kann das Lynch-Syndrom auch mit anderen Tumoren als im Dickdarm in Verbindung stehen. Hierzu können unter anderem Magen-, Dünndarm- und Blasenkrebs zählen; bei Frauen kommt häufig Gebärmutterkrebs hinzu.

Lynch-Syndrom: Risiko bis zu 80 Prozent

Castano hat es nicht nur mit einem Gewohnheitstäter zu tun, der sich immer neue Ziele in einem Körper aussucht. Weil es sich um eine erbliche Krebsform handelt, können auch Familienmitglieder betroffen sein. Trägt man eines der defekten Gene, liegt das Erkrankungsrisiko sehr hoch – bei bis zu 80 Prozent, abhängig von dem jeweiligen Gen.

Umso mehr ärgert es den ehemaligen Elektrokonstrukteur, dass er so viele Jahre nicht wusste, womit er und möglicherweise seine Familie es zu tun hatten und haben, obwohl es so viele Signale gab. Doch hatte kein Arzt diese Signale verstanden. Schon vor 26 Jahren war bei Castano ein Nierenbeckenkarzinom festgestellt worden. Den Ärzten war zwar aufgefallen, dass er dafür sehr jung war, hellhörig wurden sie dennoch nicht.

Mögliches Alarmzeichen: die Familiengeschichte

Castanos Vater hatte schon mit 59 Jahren Darmkrebs. Mit 78 kam erneut ein Tumor, an dem der Vater dann starb. Die Mutter erkrankte mit 79 Jahren an Brustkrebs, wurde aber noch stolze 93 Jahre alt. Auch diese familiäre Vorgeschichte liess niemanden ein erhöhtes Krebserkrankungsrisiko vermuten. Vor elf Jahren kam bei Castano ein bösartiger Talgdrüsentumor am Ellenbogen hinzu. So selten, dass kaum ein Arzt mit dieser Krebsform vertraut war. Wieder war niemand alarmiert.

Erst als Castano vor zwei Jahren Blut im Stuhl feststellte und vom Proktologen zur Darmspiegelung geschickt wurde, kam man der Ursache vieler seiner Krebserkrankungen langsam auf die Spur. Zeitgleich hatte er drei bösartige Dickdarmtumore entwickelt. Prof. Dr. med. Gabriela Möslein vom Chirurgischen Zentrum des Helios Universitätsklinikums Wuppertal erkannte die Zeichen und bot Castano eine molekulargenetische Testung an. Und tatsächlich: In einem der Reparaturgene konnte eine krankhafte Mutation nachgewiesen werden. Es handelt sich eindeutig um eine erbliche Veranlagung.

«Hätte vor Jahren einer der vielen Ärzte gesagt, jetzt aber ab zur Darmspiegelung, weil es einen Verdacht auf Lynch gibt, wäre das Ganze nicht passiert», ist der Rentner rückblickend überzeugt. «Gutes» Timing, das wäre für Castano also ein möglichst frühes Wissen über sein hohes Risiko für die Entwicklung von Krebserkrankungen gewesen, die mit dem Lynch-Syndrom assoziiert sind.

* Name von der Redaktion geändert

Leben mit dem Lynch-Syndrom

Herr Castano, kürzlich wurden bei Ihnen wieder Metastasen entdeckt.

Anfangs zieht mich die Nachricht über einen neuen Tumor immer runter. Es braucht dann ein, zwei Wochen bis ich wieder oben bin. Man muss damit umgehen. Es ist die einzige Möglichkeit. Und so blöd es klingt, man gewöhnt sich daran.

Es hat viele Jahre gedauert, bis bei Ihnen ein genetischer Test gemacht wurde, der das Lynch-Syndrom als Ursache Ihrer vielen Krebserkrankungen erkannte.
Ich habe sofort mit meinen drei Kindern gesprochen, damit auch sie sich testen lassen. Nur so können sie ihre Risiken richtig einschätzen und ihr Leben durch entsprechende Kontrollen schützen. Die beiden Mädchen tragen den genetischen Defekt nicht, aber der Junge.

Wie geht Ihr Sohn mit dem Wissen um?
Vor dem Test machten sich alle drei Kinder Sorgen, fühlten sich belastet. Heute macht auch mein Sohn diesen Eindruck nicht mehr auf mich. Für ihn bedeutet das Wissen vollkommen andere Startvoraussetzungen als für mich. Wenn er wachsam bleibt, regelmässig zur Magen- und Darmspiegelung geht und den Urologen aufsucht, dann können Polypen bei ihm frühestmöglich festgestellt werden, sodass sich gar nicht erst ein Darmkrebs entwickeln kann. Ich bin guten Mutes, dass es ihm viel besser ergehen wird als mir.

Eine erbliche Veranlagung für Dickdarmkrebs bedeutet lebenslange, besonders engmaschige Vorsorgeuntersuchungen.
Zu mir sagte ein Professor deshalb: «Sie gehen fleissig zur Vor- und Nachsorge und wir operieren hinter Ihnen her.»

Wie gehen Sie mit dieser ständigen Bedrohung um?
Vor zehn Jahren hätte ich mir kaum vorstellen können, was für eine Kraft ich entwickeln würde. Aber was soll ich sonst tun? Bei einem früheren Tumorverdacht meinte ein Urologe, er bewundere meinen Gleichmut. Ja, soll ich denn auf die Strasse rennen und Amok laufen? Das bringt nichts, also lasse ich es.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Castano.

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