«Wir investieren zu wenig in unsere Sexualität.»

Sexualberaterin Barbara Zuschnig erklärt, wie guter Sex klappt

Hände Mann und Frau
Frau Zuschnig, was bedeutet «sexpositiv»?

Sexpositiv heisst, über die eigene Sexualität nachzudenken, ganz ohne Vorurteile. Welchen Sex möchte ich? Welche Fantasien habe ich? Kenne ich meinen Körper überhaupt? Es geht nicht darum, 1000 Sextoys auszuprobieren, sondern sich mit den eigenen Bedürfnissen auseinanderzusetzen.

Was hindert uns daran, über Sex nachzudenken?

Die LGBTIQ-Bewegung ist nicht zufällig ein Teil der sexpositiven Bewegung. Als heterosexueller Mann und als heterosexuelle Frau ist man nicht sehr oft gefordert, die eigene Sexualität zu hinterfragen. Denn die wird ja gesellschaftlich als «normal» gesehen. Darüber muss man dann nicht nachdenken. Wir haben dann eine sehr starre Vorstellung im Kopf: Wir kümmern uns um das Haus, wir bringen das Auto in die Werkstatt – aber an unserer Sexualität arbeiten wir nicht.

Warum ist das problematisch?

Wir denken zu oft, dass guter Sex vom Himmel fällt: Wir interessieren uns für jemanden, haben guten Sex und das bleibt dann so. Aber die Realität ist anders, unsere Sexualität verändert sich ständig. An einem Tag wollen wir mehr kuscheln, am anderen etwas Neues ausprobieren, am nächsten vielleicht mal gar keinen Sex.

Eine 23-jährige Frau hat einen anderen Körper, andere Erfahrungen und andere Bedürfnisse als beispielsweise eine 55-jährige. Viele Menschen setzen sich nicht damit auseinander.

Haben wir ein falsches Verständnis von Sexualität?

Definitiv! Es gibt immer noch recht starre gesellschaftliche Vorstellungen davon, wie «normaler» Sex zu sein hat und wie viele Sexualpartner man als Frau oder Mann haben sollte. Sex im Alter wird auch oft kritisch gesehen. Solche Vorstellungen haben einen grossen Einfluss auf uns. Wenn es beispielsweise heisst, dass das sexuelle Begehren mit dem Alter der Beziehung nachlässt, dann wird ein langweilig gewordenes Sexualleben möglicherweise eher hingenommen und das Unglücklichsein akzeptiert.

Bietet eine Beziehung nicht ausreichend Intimität, um über sexuelle Bedürfnisse zu reden?

Es ist schwierig, über Sex zu sprechen, ohne dass das Gegenüber sofort eine Wertung reinbringt. Wenn sie sagt, wie sie berührt werden möchte, fasst er das möglicherweise vorschnell als Kritik an sich auf.

Oft entsteht auch schnell ein Erfüllungsdruck: Aber wenn er von einem Dreier redet, heisst das für sie nicht automatisch, dass er auch einen will. Genau das zu erkennen, fällt aber schwer, weil es bei Sex auch um tiefste Ängste und Sehnsüchte geht: Die Frage, ob man Analverkehr ausprobieren möchte, ist nun einmal intimer als die Wahl der Autofarbe.

Wie können Menschen am Anfang einer Beziehung die Weichen für ein gutes Sexleben stellen?

Man sollte nicht alles zerreden und analysieren, aber trotzdem im Gespräch bleiben. Am besten ausserhalb vom Bett, mit etwas Abstand. Wichtig ist eine veränderte Haltung: Ein Hinweis sollte nicht als Kritik verstanden werden, sondern als Tipp.

Grundsätzlich ist es nützlich, neugierig und einander zugewandt zu bleiben. Und manches sollte nicht zu dramatisch gesehen werden: Er muss doch wissen, wie er sie anfasst? Nein, das weiss er nicht. Gib ihm einen Tipp. Er kann sich dafür bedanken, dass er etwas Neues über dich erfahren hat.

Was raten Sie Paaren, deren Sexualität vielleicht etwas eingerostet ist?

Es ist erstaunlich, wie oft das System Monogamie betrogen wird. Affären sind allgegenwärtig, in jedem Alter, jeder sozialen Schicht. Sie sind oft der Versuch, etwas Neues zu entdecken – und enden oft genauso ernüchternd wie die Beziehung, wenn die Luft raus ist.

Es gibt viele Möglichkeiten, als Paar die eigene Sexualität zu beleben, aber kein Patentrezept. Manche fahren gut damit, die Beziehung offiziell für neue Bekanntschaften zu öffnen und sich so neu zu erfahren. Generell braucht man eine Idee, wie neue Energie in die Sexualität kommt. Das kann gelingen, indem der Blick auf den Partner verändert wird: durch neue Zugänge zur Sexualität, durch Ausprobieren, Fantasien teilen … Im besten Fall erkennen Paare, dass sie etwas ändern müssen, bevor sie in der Krise stecken.

Vielen Dank für das Gespräch.

Buchtipp

Das soll es schon gewesen sein? Viele Menschen stecken in sexuell unbefriedigenden Beziehungen oder trauen sich nicht, ihre eigene Sexualität zu erkunden. Barbara Zuschnig hat mit ihrer Kollegin Beatrix Roidinger ein Buch über Intimität und Beziehung geschrieben, das einen neuen Blick auf  Lust, Begehren und Erotik wirft.

Beatrix Roidinger/Barbara Zuschnig:

SEXPOSITIV. Intimität und Beziehung neu verhandelt

Goldegg Verlag, 2021

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