Leben mit einer Sehbeeinträchtigung

Betroffenen macht oft nicht ihre Sehbeeinträchtigung, sondern ihr Umfeld zu schaffen

Ältere Frau mit Sonnenbrille sitzt auf dem Sofa

Spoiler

  • Verschiedene Lesegeräte helfen Sehbehinderten, sich im Alltag zurechtzufinden.
  • Dennoch ist die Skepsis gross: Nur 30 Prozent der Sehbeeinträchtigten haben eine Arbeit.
  • Eine Betroffene erklärt: Der Umgang mit Sehbehinderten fällt anderen Menschen häufig schwer.

Der Griff zu dem weissen Signalstock kostete Manuela T. anfangs einige Überwindung. Privat und am Arbeitsplatz nutzt sie Bildschirmlesegerät, Lupenbrille und spezielle Computersoftware. Doch ausser Haus wollte sie ihre Sehbeeinträchtigung zunächst nicht zu erkennen geben, da sie sich andernfalls von ihrem Umfeld stigmatisiert fühlte.

«Viele Leute denken, man sei auch geistig nicht auf der Höhe, nur weil man einen Stock mit sich führt», schildert Frau T. ihre Erfahrungen. «Das Wort Behinderung für die Umschreibung einer Einschränkung vermeide ich lieber, da es bei vielen Leuten Assoziation mit einer zusätzlichen geistigen Beeinträchtigung auszulösen scheint.»

Sehbeeinträchtigung verunsichert Umfeld

Als sie noch ohne Signalstock unterwegs war und sich dann unsicher in der Menschenmenge bewegte, stiess das häufig auf Kritik oder Unverständnis. «Man, die ist ja morgens schon besoffen», hörte sie mehrfach hinter sich raunen. Und um sich nicht immer wieder aufs Neue erklären zu müssen, griff Frau T. schliesslich doch zum Stock.

Damit macht sie ihre Beeinträchtigung deutlich sichtbar, wodurch ihr vielfach Hilfe zuteil wird. Doch häufig «wissen die Leute nicht, wie umgehen mit mir, und stellen sich zum Teil eher ungeschickt an.» Übereilig angebotene Hilfe wirkt dann schnell entmündigend und löst Verständnislosigkeit und Frust aus – auf beiden Seiten. «Einmal wurde eine Frau fast wütend, weil ich ihren Sitzplatz im Bus nicht annehmen wollte», erinnert sich Frau T. «Oft werde ich plötzlich am Ärmel über die Strasse zu ziehen versucht, dabei stehe ich nur da und warte auf jemanden. Sind denn die Leute vor den Kopf gestossen? Wenn ich wirklich Hilfe brauche, dann sage ich das schon.»

Eigene Unsicherheit verärgert

Auch in ihrem privaten Umfeld erfuhr Frau T., welche grosse Unsicherheit ihre Sehbeeinträchtigung immer wieder hervorruft. «Je näher jemand emotional dran ist, umso schwieriger ist es. Da kommt die Angst dazu, der Sache nicht gewachsen zu sein», erklärt sie. «Allerdings ist es auch wahnsinnig anspruchsvoll, jemanden zu führen.»

Einige Nahestehende reagierten wütend auf ihre eigene Unbeholfenheit. Doch während die mit Frau T. vertrauteren Menschen mit ihr gemeinsam allmählich in die veränderte Situation «reinwachsen» konnten, sieht sie Personen, denen der Umgang mit sehbeeinträchtigten Menschen fremd ist, schnell überfordert. Notwendig wäre hier eine frühzeitige gesellschaftliche Sensibilisierung, beispielsweise in der Schule, so Frau T.

Werden Sehbeeinträchtigte diskriminiert?

Besonders auf dem Arbeitsmarkt spürt sie Berührungsängste und Vorbehalte gegenüber Sehbeeinträchtigten. «Wer stolz darauf ist, trotz dieser Einschränkung sein Leben zu bewältigen, der bekommt zu hören, dass eine Einstellung trotzdem zu heikel sei. Die reinste Diskriminierung!», vermutet Frau T. – und scheint damit recht zu haben: Aufgrund vielfacher Skepsis seitens der Arbeitgeber haben nur rund 30 Prozent der Sehbeeinträchtigten einen Arbeitsplatz.

Wie aus einer Studie des Schweizerischer Blindenbundes zu den «Chancen sehbehinderter und blinder Menschen auf dem Arbeitsmarkt» vom November 2011 hervorgeht, verschweigen viele Betroffene ihre Sehbeeinträchtigung aus Furcht, um die Möglichkeit gebracht zu werden, am Berufs- und damit auch am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können.

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