Selbstwirksamkeitserwartung: Der Patient ist sein Arzt

Prof. Dr. Gerd Nagel über die Kraft der inneren Einstellung

Mann in Natur
Was ist Selbstwirksamkeitserwartung?

Die Selbstwirksamkeitserwartung (SWE) bezeichnet die Überzeugung, dass Faktoren, die das eigene Schicksal prägen, auf körperlicher, geistiger und seelischer Ebene beeinflusst werden können. SWE ist vor allem eine Lebenseinstellung, die bei Krisen wie etwa einer Erkrankung eine andere Perspektive eröffnet: Die Heilung ist nicht nur Sache der Mediziner, sondern liegt auch in der Verantwortung des eigenen physischen und psychischen Abwehrsystems.

Wie beeinflusst die SWE die Heilungschancen?

Der Zusammenhang zwischen der Selbstwirksamkeitserwartung und körperlichen Mechanismen ist gut erforscht. Abstrakt gesprochen, wirkt die SWE als psychosozialer Faktor auf die Neurobiologie ein, die wiederum das Immunsystem steuert.

Konkret ist der präfrontale Cortex der Ort im Gehirn, an dem die emotionale Bewertung erfolgt. Er steht in enger Verbindung mit Arealen, die über Hormone und Proteine den Stoffwechsel und die Membranprozesse steuern. Kurz: Unsere Einstellung und Erwartungshaltung kann das Immunsystem positiv beeinflussen.

Lässt sich also das Immunsystem bewusst steuern?

In gewisser Weise schon. Natürlich kann man die Ausschüttung von Hormonen nicht direkt herbeiführen. Aber durch einen festen Glauben an die eigenen Abwehrkräfte werden die biologischen Prozesse gefördert.

Ist die Selbstwirksamkeitserwartung angeboren oder wird sie erworben?

Das ist schwer zu sagen. Klar ist, dass nicht alle Menschen im selben Mass über SWE verfügen. Ob die Selbstwirksamkeitserwartung aber durch frühkindliche Erfahrungen erworben oder verloren wird, ist noch nicht erforscht.

Umgekehrt bin ich mir nicht sicher, ob jeder Mensch in der Lage ist, SWE zu erlernen.

Wie kann die Wirksamkeitserwartung erlernt werden?

Die SWE wird in einem Coaching gestärkt. Dabei wird die Frage aufgeworfen, was der einzelne Patient tun kann, um die Selbstwirksamkeitserwartung zu stärken. Die Antwort muss jeder für sich selbst finden. Das ist nicht immer leicht, weil wir es gewohnt sind, gerade in medizinischen Fragen die Verantwortung über unsere Gesundheit anderen zu übertragen. Aber eigentlich ist es der Patient, der liefern muss. Er weiss am besten, was ihm guttut und seine optimistische Grundeinstellung stärkt – auch wenn er sich dessen vielleicht nicht immer bewusst ist.

Muss die Selbstwirksamkeitserwartung trainiert werden?

Sicherlich ist es ein mitunter langer Weg, sich der eigenen Kräfte bewusst zu werden. Die innere Einstellung kann allerdings so trainiert werden, dass sie zur Gewohnheit wird.

Was macht einen Patienten mit einer guten SWE aus?

Er hat die Überzeugung, dass er ein gesunder Mensch ist, der eine Erkrankung hat. Das klingt vielleicht widersprüchlich. Gemeint ist, dass er die Krankheit nicht die Oberhand über sein Leben gewinnen lässt. Das gilt natürlich immer nur in einem Stadium, in dem noch Handlungsmöglichkeiten bestehen.

Ist die SWE ein fester Teil der medizinischen Behandlung?

Leider nein. Für Patienten wäre es wichtig, dass ein SWE-Coaching so früh wie möglich nach der Diagnose einsetzt, um die mentale Fitness zu stärken und aktiv zur Heilung beitragen zu können.

Viele Mediziner sind aber sehr innovationsresistent, was die Führung von Patienten angeht. Die Chancen der SWE werden deshalb bislang oft nicht ausgeschöpft.

Vielen Dank für das Gespräch.
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