Herr Dr. Brunner, was hat es mit Schlafwandeln auf sich?
Beim Schlafwandeln erwacht unser Gehirn nur teilweise – daher gehört es zu den Störungen, die man als ‹partielles Aufwachen› kennt. Meist tritt dieses Phänomen in den ersten drei Stunden nach dem Einschlafen auf, weil dann intensive Tiefschlafphasen häufiger sind. Im Zustand des Schlafwandelns nimmt man die Umgebung mit offenen Augen wahr und interagiert mit der Aussenwelt. Ein weiteres Phänomen des partiellen Aufwachens ist der Nachtschreck. Man kennt es vor allem von Kindern, die nachts laut schreien, die Augen weit aufreissen, panisch agieren und trotzdem nicht aufwachen.
Ein bis zwei Prozent der Erwachsenen zeigen solche Schlafstörungen mit partiellem Aufwachen – das sind dann meist diejenigen, die schon als Kind schlafgewandelt sind. Der Anteil der schlafwandelnden Kinder beläuft sich auf etwa einen Drittel. Schaut man sich Schlafwandeln und seine Ursachen an, zeigt sich auch eine genetische Komponente, weshalb das Phänomen vermehrt innerhalb von Familien auftritt.
Was ist mit Schlafreden? Ist das ebenfalls partielles Erwachen?
Nein. Sprechen kann in jeder Schlafphase auftreten, ist ungefährlich und gilt als normal. Sprechen im Schlaf ohne ein anderes Verhalten ist keine Schlafstörung, selbst wenn es manchmal lästig sein kann.
Welche Umstände können dazu führen, dass man nur teilweise aus dem Schlaf erwacht?
Häufig führen laute Geräusche, eine volle Blase oder ein Hungergefühl zu einem Weckimpuls. Schläft man zu diesem Zeitpunkt gerade sehr tief, kann es sein, dass nur bestimmte Hirnregionen reagieren, das restliche Gehirn sich aber nicht wecken lässt – es verweigert sozusagen das Aufwachen.
Warum führen Weckreize bei manchen Menschen zu einem vollständigen Erwachen, während andere nur teilweise aufwachen?
Es braucht dazu eine genetische Veranlagung und einen hohen Schlafdruck. Eine Ursache von Schlafwandeln ist deshalb Schlafmangel. Insbesondere bei Kindern, die vor kurzem den Mittagsschlaf aufgegeben haben, kann sich partielles Aufwachen häufen. Ebenso können unregelmässige Schlafenszeiten das Auftreten dieses Phänomens begünstigen. Bei Schlafmangel fällt man rascher und länger in einen tiefen Schlaf. Aus diesem Erholungszustand kann man nicht so schnell aufwachen, weshalb dann die Wahrscheinlichkeit grösser ist, dass nur bestimmte Hirnregionen in den Wachmodus umschalten.
Weitere Gründe für partielles Aufwachen sind emotionale Spannungen kurz vor dem Einschlafen, wie etwa wegen eines Streits, Aufregung oder Angst. Wenn die Mutter oder der Vater eine Gutenachtgeschichte an der aufregendsten Stelle beendet, bleibt das Kind gespannt oder neugierig, wodurch die Aufwachbereitschaft im Schlaf steigt. Das schlafende Kind reagiert leichter auf einen Weckreiz. Dasselbe gilt für Erwachsene: Wenn die Spannung aus dem Krimi beim Einschlafen im Kopf bleibt, steigt die Wahrscheinlichkeit für Schlafwandeln. Ohne diese Anspannung beim Einschlafen ist die Empfindlichkeit für Weckreize geringer. Im leichten Schlaf führen Reize hingegen schneller zum Aufwachen und stets zu einem vollständigen Wachzustand.
Schlafwandeln hat noch eine weitere Ursache: Alkoholkonsum. Dieser erhöht die Schlafintensität zu Beginn der Nacht und wir fallen in einen tiefen Schlaf, aus dem sich das Gehirn ungern wecken lässt. Nach einer Partynacht kombinieren sich oft alle aufgezählten Faktoren: spannende Erlebnisse, Schlafmangel und Alkohol. Der Störenfried ist dann oft der beginnende Strassenlärm oder eine drückende Blase.
Viele assoziieren Schlafwandeln mit einer psychischen Störung. Ist da was dran?
Nein, der Nachtschreck und das Schlafwandeln haben die oben erwähnten Ursachen, die durch psychische Erkrankungen kaum beeinflusst werden. Sie sind Symptome von partiellem Aufwachen und nicht von einer mentalen Erkrankung.
Warum erinnern sich Betroffene am nächsten Tag oft nicht daran?
Die fehlende Erinnerung gehört zum Phänomen des Schlafwandelns. Die Ursache ist schnell erklärt: Das Stammhirn ist die untere ursprünglichere Gehirnregion, die neben anderen Funktionen für die Kontrolle von Bewegungen und Schlaf verantwortlich ist. Beim partiellen Aufwachen werden nur bestimmte Teile des Stammhirns wach, während andere weiterschlafen. Die Grosshirnrinde zum Beispiel, welche für unser Denkvermögen und unsere Erinnerungen zuständig ist, bleibt im ‹Schlafmodus›. Sind also nur gewisse Hirnareale wach, können wir uns bewegen und mit der Umwelt interagieren, daran erinnern können wir uns allerdings nicht.
Wie reagiert man am besten auf schlafwandelnde Personen: Sollte man sie aufwecken?
Nein, bloss nicht. Versucht man eine schlafwandelnde Person aufzuwecken, reagiert sie oft aggressiv oder flüchtet. Es scheint, als ob Schlafwandler etwas vorhaben, von dem sie sich nicht leicht abbringen lassen. Stellt man sich ihnen in den Weg, verhalten sie sich entsprechend.
Ein sehr sanfter Umgang wird empfohlen – dem Schlafwandler ruhig zureden und Berührungen sowie Begleitung ankündigen. Auf keinen Fall sollte man Betroffene festhalten oder sich ihnen in den Weg stellen, sie könnten die Flucht ergreifen und sich dabei verletzen.
Kann Schlafwandeln gefährlich werden? Welche Massnahmen sind sinnvoll, um die Risiken zu minimieren?
Bei Schlafwandlern kommt es immer wieder zu tragischen Unfällen, da die Urteilsfähigkeit der Betroffenen im Zustand der unvollständigen Wachheit vermindert ist. Man kann aber einige Vorsichtsmassnamen treffen, wie zum Beispiel die Fenster schliessen, die Haustüre abschliessen und wenn möglich das Schlafzimmer ins Erdgeschoss verlegen. Zudem sollten keine gefährlichen oder spitzen Gegenstände herumliegen.
Gibt es eine Möglichkeit, Schlafwandeln zu reduzieren oder sogar zu verhindern?
Am besten man bekämpft Schlafwandeln direkt an seinen Ursachen.
Wichtig ist ausreichend Schlaf, um den Schlafdruck tief zu halten. Ein Mittagsschlaf kann da wahre Wunder bewirken. Zudem empfehle ich, emotionale Spannungen vor dem Schlafengehen möglichst zu vermeiden. Das bedeutet, keine Horrorfilme und Krimis vor dem Einschlafen zu schauen oder sich nach einem Streit vor dem Einschlafen zu versöhnen. Dasselbe gilt für Kinder: Der Tag sollte mit einem Sicherheitsgefühl und einem positiven Gedanken beendet werden.
In ausgeprägten Fällen verabreichen wir Medikamente, die partielles Aufwachen unterdrücken. Eine medikamentöse Behandlung kommt beispielsweise dann zum Einsatz, wenn ein Kind ins Skilager geht. In einer fremden Umgebung und fern von der Familie zu schlafen, kann zu emotionalen Spannungen führen und Schlafwandeln begünstigen – die Unfallgefahr ist erhöht. Dabei wird Schlafwandeln nicht an seinen Ursachen therapiert, sondern lediglich das Symptom unterdrückt.
Wann sollte man eine Spezialistin oder einen Spezialisten aufsuchen?
Tritt das Phänomen im Erwachsenenalter erstmalig auf, sollte eine Fachperson konsultiert werden, um die Notwendigkeit einer Untersuchung des Gehirns zu klären.
Schlafwandeln kommt bei vielen Kindern vor und benötigt, abgesehen von Aufklärung über die Risikofaktoren, in der Regel keine weiteren Abklärungen. Ist man unsicher oder kommt es häufig zu gefährlichen Situationen, informieren wir gerne über entsprechende Schutzmassnahmen oder helfen, den Auslöser zu identifizieren.
Gibt es kuriose oder besonders spannende Fälle von Schlafwandeln, die Sie erlebt haben?
Ja, da kommen mir gleich zwei Fälle in den Sinn:
Ein junges Paar kam zu mir, weil der Mann nachts manchmal laut schrie. Er litt unter Nachtschreck. Während ich dem Paar die möglichen Auslöser auflistete, fiel der Groschen. Die Partnerin des Mannes stellte nämlich fest, dass der Nachtschreck immer dann auftrat, wenn seine Lieblings-Eishockeymannschaft verloren hatte.
Der andere Fall betraf ein Mädchen von fünf Jahren, das schlafwandelte. Auch hier habe ich mit der Mutter gesprochen, um mögliche Ursachen zu finden. Als sie mir erzählte, dass ihre Tochter zum Einschlafen immer die Geschichten von Bibi Blocksberg hört, war ein möglicher Auslöser gefunden. Solche Hexengeschichten können bei einem Kind dieses Alters Angst und Spannung erzeugen. Und ich sollte recht behalten, denn als die Abendroutine geändert wurde, gab es keine nächtlichen Spaziergänge mehr.
Zum Abschluss kann ich nur sagen, dass ich es immer wieder spannend finde, in der Sprechstunde Schlafwandeln auf seine Ursachen zu untersuchen und die Betroffenen über die Risikofaktoren aufzuklären.