Reinhold Messner: «Der Mensch ist ein Mängelwesen.»

Ein Interview über Bergwandern, Selbstzweifel und nachhaltigen Tourismus

Reinhold Messner
Herr Messner, wie oft sind Sie in den Bergen unterwegs?

Normalerweise etwa zwei Mal in der Woche, hauptsächlich wandernd.

Was fasziniert Sie daran?

Das ist für mich kein blosses Hobby, sondern ein Genuss, eine innere Notwendigkeit. Das Bergwandern erfolgt ja in der Geschwindigkeit des Gehens. Mit Sport hat das überhaupt nichts zu tun. Es geht im Gegenteil eher darum, den Puls nicht hochzujagen und zur Ruhe zu kommen. Bergwandern ist das Gesündeste, was man machen kann.

Das anstrengendere Bergsteigen ist dann also eher ungesund?

Das stimmt. Ich habe damit als Kind angefangen und mich in der Jugend kontinuierlich gesteigert. So kam ich in eine Szene von Extremsportlern, in der man versucht hat, das zu erreichen, was als unmöglich galt. Gesund war das aber nicht.

Was hat Sie dabei mehr gereizt: die körperliche oder die mentale Herausforderung?

Mich interessiert beim Bergsteigen der Mensch. Wir gehen dabei in eine archaische Welt – ohne jede Zivilisation – und erfahren, wer wir sind. Man spürt, wie die Zweifel, Hochgefühle und Ängste wachsen. Daraus gewinnen wir Selbsterkenntnis und Selbstmächtigkeit – nämlich dann, wenn wir erleben, dass wir etwas erreicht haben, das wir uns zuvor vielleicht nicht zugetraut haben.

Haben Sie diese Erfahrungen auch an anderen Orten gemacht?

Ja, bei der Durchquerung der Antarktis und der Wüste Gobi habe ich Ähnliches empfunden. Das waren grosse Abenteuer.

Was macht für Sie ein Abenteuer aus?

Für ein Abenteuer braucht es drei Voraussetzungen: Schwierigkeiten als grosse Herausforderung der Natur, dazu Gefahren, die erkannt und vermieden werden müssen, und zuletzt die Exposition. Dieses Ausgesetztsein ist elementar, um sich selbst zu erleben. Der Mensch ist ein Mängelwesen. Das wird in solchen Situationen besonders spürbar.

Sie waren in den Bergen, im Eis, in der Wüste. Warum hat Sie das Wasser nie gereizt?

Wenn ich etwas mache, dann ganz, auch wenn anderes dabei vernachlässigt wird. Ich kann nicht einmal schwimmen! Ich habe mein Leben lang, meinem Alter und meinen Fähigkeiten entsprechend, mein Spielfeld verändert und neue Herausforderungen gesucht. Dabei habe ich mich immer gefragt: Kann ich aus meiner Idee etwas machen? Diese Umsetzung einer Vorstellung – auch wenn sie noch so unnütz ist – ist gelingendes Leben.

Bergwandern wird immer beliebter. Was sollten Interessierte beachten?

Sie sollten sich vorher genau überlegen, was wirklich erreichbar ist. Der Alpinist Paul Preuss sagte einmal: «Das Können ist des Dürfen Mass.» Das gilt bei der Vorbereitung zum Bergwandern und in den Bergen selbst, denn auch beim Wandern gibt es unendlich viele Gefahren. Deshalb sollte man sich der Herausforderung nur Stück für Stück stellen.

Und noch ein Tipp: Sie sollten dorthin gehen, wo die vielen anderen nicht sind. Früher gab es in den Bergen viel mehr Wege als heute. Sie wurden von Menschen genutzt, die Holz transportiert oder Beeren gesammelt haben. Diese Wege zu erkunden, ist faszinierend. Ich entdecke so meine Heimat immer wieder neu und begegne dabei kaum jemandem.

Halten die Berge den Massentourismus aus?

Wir Alpenbewohner sind vom Bergtourismus abhängig. Er kann nur dann ökologisch und wirtschaftlich nachhaltig sein, wenn wir den Menschen bieten, was sie hier suchen: Ruhe, Entschleunigung, Erhabenheit.

Der Ballermann-Tourismus, der bislang – wenn auch nur teilweise – in den Bergen betrieben wurde, hat keine Zukunft, weil die Menschen dabei auf wenige Punkte konzentriert urlauben. Dort wird die Natur überfordert, Hektik und Aggressivität an diesen Orten führen dazu, dass die Besucher sich nicht erholen können oder das Interesse daran verlieren.

Wie kann das in den Bergen verhindert werden?

Die Menschen müssen besser verteilt werden. Die Aussichtsplattformen, die Menschenmassen anziehen, sind überflüssig, denn der Berg braucht keine Inszenierung. Er selbst ist aus jeder Perspektive eine einmalige Landschaft.

Grosse Bahnen sollten nicht ausgebaut werden. Wo sie bestehen, mag man sie erhalten, weil Arbeitsplätze daran hängen. Aber an anderen Orten müssen Alternativen geschaffen werden. Im Grunde hat jedes Dorf seine eigene Landschaft, seine eigene Küche, Eigenheiten, Geheimnisse, die entdeckt werden können.

Wie realistisch ist dieser Ansatz?

Die Corona-Krise hat gezeigt, dass Massenansammlungen keine Zukunft haben. Mit dieser Erfahrung im Kopf muss nun umgedacht werden. Im Tourismus brauchen wir keinen schnellen Erfolg, sondern eine Perspektive, die über Jahrhunderte trägt.

Vielen Dank für das Gespräch.
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