Brustkrebs

«Man fühlt sich extrem ausgeliefert»

Eine Brustkrebs-Betroffene erzählt ihre Geschichte

Frau Sitzbank Nachdenklich

Sie pflückt noch einige Zweige Thymian und wirft sie in eine gläserne Teekanne, bevor sie auf ihrer Terrasse von der wohl schwierigsten Zeit ihres Lebens erzählt. Und schnell wird deutlich: Sie ist noch nicht vorüber. Die Diagnose Brustkrebs brach vor fast fünf Jahren über Carolins Leben ein, krempelte alles um und ist bis heute eine riesige Herausforderung.

«Unter der Dusche beim Einseifen entdeckte ich damals einen kirschgrossen Knoten und daneben einen kleineren an meiner rechten Brust», erinnert sich Carolin. «Obwohl es mich wie ein Schlag traf, schaffte ich es, diese Entdeckung für vier Tage komplett zu verdrängen. Dann plötzlich, ich stand gerade am Zürcher Hauptbahnhof, durchfuhr es mich wie ein Schlag. Es war, als hätte jemand ein Netz über mich geworfen und ich wusste, da komme ich nicht raus, ich muss jetzt etwas tun.»

«Das Schlimmste war, mit der Angst allein zu sein»

Was nun folgte waren Tage der Arztbesuche, der Untersuchungen und Befürchtungen, die sich mehr und mehr bestätigten. Ja, das Gewebe sei auffällig, sagte die Frauenärztin. «Sieht nicht gut aus», sagte der Radiologe, nachdem Carolin «aus der Röhre», dem MRI, kam. «Sterbe ich jetzt? Was wird aus meinen Kindern? Wo überall ist der Krebs?», beschreibt Carolin ihre Gedanken an diesen Tag in der radiologischen Praxis.

Noch hier und heute in ihrem Garten, an diesem sonnigen Spätsommertag, rollen ihr Tränen über das Gesicht, wenn sie sich erinnert: «Ich habe das Vorgehen als extrem brutal empfunden: in Bauchlage in dieser Röhre, die Brüste in Aushöhlungen gepresst. Ich kam mir vor wie auf einer Schlachtbank.» Gleich im Anschluss folgte eine schmerzhafte Gewebsprobeentnahme aus der Brust und die einsickernde Gewissheit, dass es Krebs ist. Aber das Schlimmste war, mit all dieser Angst und Panik allein zu sein. «Es wäre gut, wenn es dort, wo man die Diagnose erhält, irgendeine psychologisch ausgebildete Person gäbe. Ein Mensch, der einem warm begegnet, vielleicht einen Tee bringt oder einfach nur die Hand hält. Ich habe die ganze Zeit geweint», erzählt Carolin.

«Ich wollte raus und ins Leben»

Nach der endgültigen Gewissheit suchte Carolin die totale Ablenkung: «Ich wollte unter Menschen, zu Ikea, ins Leben», erinnert sie sich. «In den Wald, mit den Kindern ein Feuer machen.» Gleichzeitig war da die Angst, ständig ratternde, sorgenvolle Gedanken und das Entsetzen darüber, dass ihr Mann sich unbeteiligt verhielt und ihr keinen Trost spenden konnte. «Er half zwar mit den Kindern, aber ich fühlte mich trotzdem gar nicht aufgefangen. Bei dem wohl wichtigsten Arzttermin vor der Operation ist er im Wartezimmer eingeschlafen», denkt sie zurück. Beim Chirurgentermin, bei dem entschieden wird, wie und welche OP die richtige ist, wollte Carolin ihren Mann nicht dabeihaben. Sie fühlte sich gekränkt, weil er so teilnahmslos war. «Er wollte nichts davon wissen», erzählt sie.

Vier Wochen später fand der achteinhalbstündige Eingriff statt: Die Brust wurde entfernt und mit Eigengewebe wiederaufgebaut. Es folgte eine Antihormontherapie, die für fünf Jahre geplant war und die Carolin bis heute durchführt.

«Ich will meine Kinder aufwachsen sehen»

«Meinen tiefsten Punkt hatte ich zwei Tage nach der Operation», erinnert sich Carolin. «Ich hatte Schmerzen und fühlte mich schlecht. Plötzlich kam am Abend der Chirurg herein und sagte mir kurz und knapp, sie hätte in der Nachuntersuchung noch weitere Tumorzellen gesehen, sie müssten noch einmal operieren. Für mich brach in diesem Moment alles zusammen. Als ich mich gesammelte hatte und Fragen stellen wollte, war der Chirurg schon wieder weg. In diesem Moment habe ich aufgegeben».

Im Augenblick der tiefsten Verzweiflung rief Carolin eine Freundin an, die selbst eine schwere Krankheit besiegt hatte und frage sie: Woher hast du die Kraft genommen? «Aus der Liebe zu meinen Kindern», antwortete ihre Freundin, und in dem Moment spürte Carolin, wie ihr Lebenswille mit aller Macht zurückkam. «Ich wusste plötzlich: Ich will überleben. Ich will für meine Kinder da sein, sehen, wie sie aufwachsen. Möchte da sein, wenn sie sich zum ersten Mal verlieben.»

Das Telefonat, das Carolin nun von ihrem Krankenhausbett aus führte, stellte den Wendepunkt ihrer Krankengeschichte dar: Sie sprach mit einer befreundeten Ärztin, die ihr bestätigte, dass das Vorgehen des Chirurgen so nicht in Ordnung war. Dass sie als Patientin das Recht auf ein ausführliches Gespräch mit allen beteiligten Ärzten hätte. Dass man sie nicht so einfach wieder in den OP schieben dürfte. Carolin wagte den Schritt in die Eigenverantwortlichkeit und forderte dieses Gespräch. «Zwei der anwesenden Ärzte wirkten schon sehr genervt, aber ich bin heilfroh, dass dieser Austausch gefunden hat.» Das Ergebnis: Es war keine weitere OP mehr nötig.

«Eine Woche pro Monat ist im Kalender grau angestrichen»

Bis heute kommt für Carolin Monat für Monat mit der Spritze der Antihormontherapie die Erinnerung an den Krebs zurück. Denn für etwa eine Woche geht es ihr schlecht. Die Nebenwirkungen ähneln denen der Chemotherapie: Kopfschmerzen, Schwäche, Übelkeit und eine extreme Hitze katapultieren Carolin immer wieder aus ihrem Alltag. «Anfangs hatte ich immer grosse Angst vor dem Termin der Spritze. Ein halbes Jahr nach Beginn der Therapie wollte ich sterben. Die Nebenwirkungen sind wahnsinnig. Ich war fünf Tage lang wie auf allen Vieren. Man verliert sich, ist extrem dünnhäutig und nicht man selbst», erzählt Carolin von der Zeit, in der sie sich auch von ihrem Mann getrennt hat. Drei Kinder, ein Umzug, eine Woche im Monat, in der nichts mehr geht.

Was Carolin in dieser Zeit hilft, ist menschliche Nähe. Ihre Kinder, die Wärme und Unterstützung ihrer Familie. «Gespräche, Freunde, die mich abholen für einen Spaziergang, mir ein Buch mitbringen – das war die grösste Unterstützung zu dieser Zeit.» Eine riesige Hilfe kommt für sie von ganz unerwarteter Seite: Ein ältere Frau bietet ihr spontan an, in der Woche nach der Antihormon-Spritze zu ihr zu kommen. Sie kocht für die Kinder, macht Hausaufgaben mit ihnen, räumt zu Hause auf. «Ich bin ihr unendlich dankbar dafür, weil es mir Raum gibt, mich um mich zu kümmern.»

Als besonders heilsam empfindet sie den Kontakt mit der Natur. Wenn sie kann macht sie Spaziergänge oder streift durch Wälder. Auf einer Bank mit Aussicht hat sie ihre Art von Meditation gefunden. Kleine Rituale, die es ihr besser gehen lassen. «Wenn es mir zu schlecht geht für Spaziergänge puzzle ich im Garten herum», erzählt sie. «Das tut mir unglaublich gut.»

«Was hilft, ist gute, liebe Menschen um sich zu haben»

Wenn Carolin vier Jahre nach ihrer Diagnose bei Kräutertee im Grünen sitzt und erzählt, werden zwei Dinge deutlich: Brustkrebs ist nicht in einigen Monaten vorüber, er bestimmt eine gesamte Lebensphase. Er ist zudem nicht nur eine körperliche Herausforderung, sondern auch eine emotionale. Von Tränen und Wut über unsensible Chirurgen, Angst und Verzweiflung bis hin zu Freude und Dankbarkeit über die Zuwendung von Mitmenschen.

Im Rückblick, so Carolin, hätte sie sich mehr Austausch mit anderen Betroffenen gewünscht, vor allem auch vor der Operation. «Wie organisieren sich andere Frauen in den Zeiten, in denen es ihnen schlecht geht? Wie gehen sie mit ihrer Angst vor Rückfällen um? Das sind Themen, die so wichtig und zentral sind und die man nicht mit jedem teilen kann.» Auch mehr Wissen und Sicherheit in der Zeit rund um die Operation wäre ihr eine Hilfe gewesen. «Man fühlt sich so extrem ausgeliefert. Am Ende meiner Behandlung hatte ich das Gefühl, dass jeder noch ein bisschen Geld an mir verdienen wollte und dass eine derart grosse Operation nicht notwendig gewesen wäre. Aber wer kann einem mit Sicherheit sagen, welche OP und Therapie die besten sind?»

Facebook
Email
Twitter
LinkedIn