Locked-in-Syndrom

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Es ging um einen knapp zwölfjährigen Knaben. Wegen eines Herzfehlers musste er nach der Geburt bis zum Kindergarteneintritt mehrmals operiert werden. Entgegen den medizinischen Prognosen erholte er sich immer wieder. Seither verlief seine Entwicklung sehr erfreulich, sodass er ein völlig normales Leben führen konnte. Er war aufgeweckt, spielte sogar Fussball und war auch ein guter Schüler.

Eines Morgens erlitt er plötzlich einen starken Fieberschub und musste ins Krankenhaus eingewiesen werden. Innert Stunden verschlechterte sich sein Zustand dramatisch. Fieberhaft suchten die Ärzte nach dem Grund dafür und nach einer Diagnose für diesen Gesundheitseinbruch mit schweren neurologischen Einschränkungen und Lähmungserscheinungen.

Klar war, dass die neue Erkrankung mit seinem Herzen nichts zu tun hatte, sondern eine andere Ursache haben musste. Nur mit maximalem intensivmedizinischem Aufwand überlebte der Patient ein Multiorganversagen. Nach langwierigen Untersuchungen konnte endlich die Diagnose gestellt werden. Es handelte sich um eine äusserst seltene Erkrankung, die entweder zum Tod, zu einem vegetativen Zustand oder zu einem sogenannten «Locked-in-Syndrom» (LIS) führen kann. Bei diesem bleiben die kognitiven Funktionen und die Gefühlsfähigkeit bei einem Menschen erhalten, und man kann mit ihm über Kommunikationscodes kommunizieren. Dieses Krankheitsbild ist durch das Buch und den Film «Schmetterling und Taucherglocke» bekannt geworden.

Angesichts dieser Diagnose und des sehr schlechten Gesundheitszustands des Knaben stellte sich die Frage, ob die medizinischen Massnahmen nicht ihre Grenze erreicht haben würden und man den Knaben sterben lassen durfte. Seine Mutter wich nicht von seinem Bett. Aufgrund der früher gemachten Erfahrungen mit seinem Herzfehler war sie davon überzeugt, dass ihr Sohn es auch diesmal schaffen würde. «Er ist ein Kämpfer. Entgegen allen medizinischen Prognosen hat er sich immer wieder erholt. Das wird auch diesmal so sein», meinte sie. Der Vater hingegen war eher für einen Abbruch der Therapie. Das Behandlungsteam befand sich im Dilemma zwischen seiner Pflicht zur Lebenserhaltung und der Frage nach dem Vorenthalten lebenserhaltender Massnahmen in Anbetracht einer abschätzbar schwerstens eingeschränkten Lebensqualität.

Inwiefern man mit dem Knaben wirklich kommunizieren konnte, war fraglich. Die diesbezügliche Einschätzung im Behandlungsteam war sehr unterschiedlich. Klar war, dass dieser im Moment nicht urteilsfähig war. Zweimal wurde eine ethische Fallbesprechung durchgeführt. Das Behandlungsteam schlug den Eltern vor, ihren Sohn bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand nicht mehr zu reanimieren. Auch die Mutter willigte in diese Therapiebegrenzung ein. Im Übrigen wurde die Maximaltherapie weitergeführt. Sollte sich sein Zustand weiter verschlechtern, wollte man den Behandlungsplan erneut in einer ethischen Gesprächsrunde besprechen.

Der Gesundheitszustand des Knaben stabilisierte sich in der Folge so weit, dass er nicht mehr auf der Intensivstation verbleiben musste. Gleichwohl war mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er zeitlebens über eine Tracheostoma-Kanüle würde beatmet und mit einer PEG-Sonde künstlich ernährt werden müssen. Das Behandlungsteam hofft, dass sich seine gesundheitliche Situation besser entwickeln wird als befürchtet oder dass er dereinst selber würde entscheiden können, ob er in diesem Zustand weiterleben möchte oder nicht.


Dr. theol. Ruth Baumann-HölzleRuth Baumann-Hölzle ist Mit­be­grün­de­rin und Lei­te­rin des «In­ter­dis­zi­pli­nä­ren In­sti­tuts für Ethik im Ge­sund­heits­we­sen» der Stif­tung Dia­log Ethik. Sie ist Ex­per­tin für Ethik in Or­ga­ni­sa­ti­on und Ge­sell­schaft.

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