Lebensgestaltung: Schicksal und Machsal im Kontext genetischer Untersuchungen

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In seiner Lebensgestaltung kann der Mensch sein Leben entweder einseitig an der Vorstellung der «Machsal» – wie es der deutsche Philosoph Odo Marquard in seinem Werk «Abschied vom Prinzipiellen» ausdrückt – oder an der des «Schicksals» orientieren.. Bei Ersterem unterliegt er der Hybris menschlichen Allmachtsempfindens. Er blendet die Abhängigkeiten aus, die sich aus dem sozialen Gefüge und biopsychosozialen Gegebenheiten ergeben, beispielsweise übersieht er die genetischen Dispositionen. Bei Letzterem sieht der Mensch die eigene genetische Beschaffenheit als determinierend an und missachtet seine Freiheit zur eigenen Lebensgestaltung und seine Verantwortung dafür. Er schätzt den Einfluss seines Lebensstils und die Möglichkeit, dass das eigene Verhalten und Umweltfaktoren über die Epigenetik Einfluss auf das eigene Erkrankungsrisiko wie auch das Risiko künftiger Generationen haben können, als gering ein.

Menschliches Entscheiden und Handeln sind abhängig von schicksalshaften Vorgegebenheiten. Diese können dank der menschlichen Vernunft jedoch aktiv gestaltet werden, wodurch der Mensch auch zu einem verantwortlich handelnden Wesen wird. Seine Freiheit besteht im bewussten Umgang mit den Abhängigkeiten. Die Kehrseite der Freiheit bildet der Entscheidungszwang, denn der Mensch kann nicht darauf verzichten, sich zu entscheiden. Damit steht er im Spannungsfeld zwischen Schicksal und Machsal, zwischen seinen genetischen Vorgegebenheiten und seinen Möglichkeiten zur Lebensgestaltung. Ethische Entscheidungsfindung bedeutet darum stets die Suche und das Abwägen zwischen diesen beiden Polen, das heisst auch zwischen Fatalismus und Willkür.

Der Mensch ist frei, die Möglichkeiten der Genanalysen so zu nutzen, dass sie zu einem guten Leben und guten Sterben beitragen. Hierzu braucht es genetisches und medizinisches Fachwissen sowie die Fähigkeit, dieses Wissen in die eigene Lebenswelt zu integrieren. Je schwerwiegender und weitreichender die Folgen genetischer Risiken sind, desto mehr können sie die Betroffenen überfordern. Dies ist besonders dann der Fall, wenn das Risiko für Krankheiten entdeckt wird, für die es derzeit keine Heilungsmöglichkeiten gibt, zurzeit etwa 4000. Darunter gibt es auch Krankheiten wie Chorea Huntington, die zu tragischen Lebenssituationen führen und im tiefsten Sinne zum Schicksal der Betroffenen werden. In diesen Fällen sind diese ganz besonders auf Unterstützung und Hilfe durch eine professionelle Beratung und Betreuung angewiesen. Dabei sollte die im Zusammenhang mit den Gentests oft genannte personalisierte Medizin («personalized medicine»), die vielversprechende Ansätze und Therapiemöglichkeiten eröffnet, durch eine personalisierte Beratung, Betreuung und Begleitung («personalized counseling and coaching») ergänzt werden, die sich mit der persönlichen Wertvorstellung und den individuellen Lebenszielen von Betroffenen auseinandersetzt und in dieser Hinsicht Unterstützung anbietet.


Dr. theol. Ruth Baumann-HölzleRuth Baumann-Hölzle ist Mit­be­grün­de­rin und Lei­te­rin des «In­ter­dis­zi­pli­nä­ren In­sti­tuts für Ethik im Ge­sund­heits­we­sen» der Stif­tung Dia­log Ethik. Sie ist Ex­per­tin für Ethik in Or­ga­ni­sa­ti­onen und in der Ge­sell­schaft.

(Co-Autor: Dr. sc. nat. Daniel Gregorowius ist Leiter des «Fachbereichs Versorgungsforschung» bei Dialog Ethik.)

 

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