«Wir werden uns an COVID-19 gewöhnen müssen»

Prof. Dr. Hockertz über das Coronavirus und Gegenmassnahmen

Händewaschen
Herr Prof. Hockertz, wie gefährlich ist COVID-19?

Hier müssen wir die Diskussion auf die Fakten zurückführen. COVID-19 ist eine Atemwegserkrankung, die ähnlich wie die Grippe verläuft. Die Inkubationszeit ist sicher eine andere, aber die Verbreitung in der Bevölkerung und die Sterberate sind ähnlich.

Ist die Sterblichkeit von COVID-19 nicht höher?

Nein. Die Sterblichkeit liegt bei 0,1 bis 0,3 Prozent. Wir müssen uns bewusst machen, dass die bekannten Infektionszahlen eben nicht alle Menschen abbilden, die sich mit dem Coronavirus angesteckt haben. Nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts ist die Zahl der tatsächlich Betroffenen etwa zehn Mal so hoch wie die der registrierten Fälle.

Bei 95 Prozent der Menschen verläuft COVID-19 symptomlos oder mit nur leichten Beschwerden. Die übrigen fünf Prozent erkranken wahrnehmbar, wovon etwa ein Prozent beatmet werden muss. Insgesamt ist das also eine sehr kleine Risikogruppe. Diese sollte gezielt geschützt werden.

Und doch scheint die Zahl der Todesfälle in Italien erschreckend hoch.

Eine aktuelle Untersuchung zeigt, dass 99 Prozent der italienischen Todesopfer bereits vorerkrankt waren. Und da sind noch nicht einmal die Raucher berücksichtigt. Hinzu kommt, dass Norditalien europaweit die Region mit der grössten Luftverschmutzung ist. All das beeinträchtigt die Gesundheit der Atemwege.

Aus verschiedenen Studien ist bekannt, dass Italien im Vergleich zu anderen europäischen Staaten eine mangelhafte Krankenhaushygiene hat. COVID-19 ist in diesem Gesamtbild nur ein kleiner Baustein – wie auch die Grippe.

Halten Sie die bisher getroffenen Massnahmen zur Beschränkung des sozialen Lebens für sinnvoll?

Nein, sie sind weder kurz- noch langfristig sinnvoll. Die Kollateralschäden sind enorm, wenn wir nur an die wirtschaftlichen Schäden, die psychische Belastung und die häusliche Gewalt denken. Die Erfolgsaussichten hingegen sind gering. Zum einen sind 95 Prozent der Bevölkerung entweder schon genesen oder sie werden COVID-19 leicht ertragen können. Zum anderen zeigen die Zahlen in China, dass drei Viertel der registrierten Erkrankten – also jener, die eindeutige Symptome gezeigt haben, ohne jede Therapie genesen sind. Unser Immunsystem kommt mit COVID-19 also besser klar, als wir denken.

Eine Ausgangssperre ist demnach überflüssig?

Den ersten belastbaren Wert dazu könnten wir aufgrund der langen Inkubationszeit erst zehn bis 14 Tage nach der Einführung dieser Massnahme erkennen. In Deutschland rät das Robert-Koch-Institut inzwischen zu einem anderen Testverfahren als bisher. Wenn nun zwei Parameter verändert werden – die Beschränkung der sozialen Kontakte und ein anderes Testen – woher will man am Ende wissen, welcher Faktor was bewirkt hat? Diese Vorgehen ist unwissenschaftlich und wirkt autoritär.

Welche Massnahmen halten Sie für sinnvoll, um das Coronavirus einzudämmen?

Hygiene! Wir haben über die Jahre verlernt, was Hygiene bedeutet. Wer hat sich denn vor Corona die Hände wirklich 20 Sekunden lang gewaschen? Der aktuelle Massnahmenkatalog der Regierungen ist gut, um die Hygiene neu zu entdecken. Dazu gehört ein richtiges Händewaschen, die richtige Nieshygiene, Abstand zu offensichtlich Erkrankten zu halten und sich nicht so oft ins Gesicht zu fassen.

Jeder kennt auch den Kollegen, der sich verschnupft und fiebrig zur Arbeit schleppt. Ich denke, dieser gefährliche Präsentismus hat keine Zukunft mehr.

Welche Massnahmen sollte die Politik statt einer Ausgangsbeschränkung beschliessen?

Derzeit wird meist der Test über einen Rachenabstrich vorgenommen. Viel sinnvoller ist ein Immunglobulinnachweis. Er ermittelt, ob Antikörper vorhanden sind. Diese Menschen haben COVID-19 bereits überstanden und können – zumindest auf absehbare Zeit – das Virus auch nicht übertragen. Sie könnten sich frei bewegen, wieder zur Arbeit gehen und Schwererkrankte pflegen. Wenn dieser Test massenhaft durchgeführt würde, könnte das der Bevölkerung deutlich mehr Sicherheit geben.

Steht uns im Winter eine zweite Corona-Pandemie bevor?

Ich kann nicht in die Zukunft sehen. Klar ist, dass die aktuelle Infektionswelle durch das Wegschliessen der Bevölkerung verlängert wird. Ich denke aber nicht, dass man Quarantänen beliebig oft verhängen kann. Das machen die Menschen und die Wirtschaft nicht mit.

Wir werden uns langfristig an COVID gewöhnen müssen, wie wir uns an die Grippe gewöhnt haben.

Vielen Dank für das Gespräch.
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