Hochsensitivität – Fluch oder Segen?

Von Reizüberflutung und emotionaler Intelligenz

Hochsensitivität: Nahaufnahme von Federn

Spoiler

  • Hochsensitive Menschen verarbeiten Sinneseindrücke tiefer und denken und fühlen intensiver.
  • Allerdings klagen viele hochsensitive Menschen über Reizüberflutung, Stressanfälligkeit und Ermüdung.
  • Für hochsensitive Kinder sind Körperkontakt und emotionale Zuwendung sehr wichtig.

Unter uns Erdbewohnern gibt es ganz verschiedene Sensitivitätstypen: die robusten, die mittelsensitiven und die hochsensitiven Menschen. Der Begriff «Sensitivität» bezieht sich dabei auf das Level der eigenen Wahrnehmung. Man spricht von der inneren Wahrnehmung, die Gedanken und Gefühle umfasst, und der äusseren, die Klänge, Gerüche oder visuelle Eindrücke miteinbezieht. «Hochsensitive Menschen nehmen ihr Gefühlsspektrum detailreicher wahr. Sie verarbeiten Sinneseindrücke tiefer, denken und fühlen intensiver», weiss Bertsch. Wer hochsensitiv ist, wird also stärker von seinem Erlebten beeinflusst.

Wo Licht ist, da ist auch Schatten

Hochsensitive haben eine gute Intuition und lebhafte Vorstellungskraft, die auch ihre Kreativität besonders beflügelt. «Sie verfügen meist über eine hohe emotionale Intelligenz, breite Interessen und ein ganzheitlich vernetztes Denken», sagt Bertsch. Hochsensitivität hat aber auch ihre Schattenseiten. «Die heutige Reizüberflutung führt oft zu Ermüdung und Überforderung. Perfektionismus und Entscheidungsschwierigkeiten gehören ebenso ins Repertoire der Herausforderungen für Feinfühlige.» Dazu kommen eine verminderte Stressresistenz, Schreckhaftigkeit und Verletzbarkeit. Wie geht man mit all dem um?

Bei Hochsensitivität ist der Blick nach innen gefragt

Hochsensitive Menschen haben eine gesteigerte Weltwahrnehmung, dafür aber eine verminderte Selbstwahrnehmung. «Angesichts der schwierigen geopolitischen und ökologischen Herausforderungen unserer Zeit ist es wichtig, dass Hochsensitive nicht in Weltschmerz verfallen», betont Bertsch. Es geht darum, intensiver mit den eigenen Bedürfnissen in Kontakt zu kommen. «Im wahrsten Sinne des Wortes soll mehr Selbstbewusstsein geschaffen werden, mehr Selbstfreundlichkeit und mehr Selbstmitgefühl. Es ist okay, Fehler zu machen. Es ist okay, so zu sein, wie man ist. Das Ziel ist, sich selbst zu vergeben und eine Lockerheit ins Leben zu rufen.»

Resilienz durch Achtsamkeit

Resilienz – die Kunst des gekonnten Verarbeitens von Krisen – spielt eine grosse Rolle im Umgang mit der eigenen Hochsensitivität. Einerseits neigen hochsensitive Menschen dazu, vulnerabel zu sein, also verletzlich auf Störfaktoren zu reagieren. Andererseits zeigt sich aber, dass Feinfühlige eben auch gut Resilienzpotenziale aktivieren können. Das hängt mit einem erfolgreichen Selbst- und Stressmanagement zusammen. «Aus meiner Sicht ist die Selbstachtsamkeit der zentrale Schlüssel eines gelingenden Selbstmanagements. Wenn ich die Tendenz habe, anfälliger zu sein, muss ich eben mehr auf mich achten», erklärt der Hochsensitivitäts-Experte. «Ich kann nur richtig reagieren, wenn ich fühle, dass mir etwas zu viel wird. Oder dass ich mich mit einem Menschen unwohl fühle oder eine Arbeit nicht gern mache. Die Achtsamkeit mit sich selbst ist die Grundlage von Selbstschutz.»

Hochsensitivität bei Kindern

Als Eltern ist es notwendig, Gelassenheit gegenüber unterschiedlichen Verhaltensmerkmalen von Kindern zu entwickeln. Nicht jedes Anderssein ist ein Hinweis auf eine Erkrankung. «In den letzten Jahrzehnten ist der Begriff der Normalität immer enger gefasst worden. Fachleute und Eltern haben mehr Ängste entwickelt bezüglich Andersartigkeiten. Deshalb fand vor etwa zehn Jahren eine Gegenbewegung unter dem Stichwort ‹Neurodiversität› statt», erläutert Bertsch.

«Man sollte dadurch realisieren, dass Andersartigkeit nicht gleich eine Krankheit ist, sondern eine Vielfalt, die wichtiger Bestandteil des Menschseins ist.» Zudem ist es hilfreich, wenn sich Eltern aktiv mit dem Thema Hochsensitivität beschäftigen – im Idealfall zusammen mit ihren Kindern. Heute gibt es dazu viel Literatur, auch Kinderbücher. Eltern sollten ihr Augenmerk besonders auf frühkindliche Bindungen richten, um diese zu stärken. «Körperkontakt und emotionale Zuwendung sind für hochsensitive Kinder noch entscheidender als für andere. Es gilt, das Kind zu stärken, indem wir Ja zu seinem feinfühligen Wesen sagen und es in seiner Art bestärken und nicht etwa verändern wollen.»

Hochsensitivitätsforschung noch in den Startlöchern

Die Forschung rund um das Thema Neurosensitivität ist noch sehr lückenhaft. Ein interessanter Aspekt ist, dass der Prozentsatz der Hochsensitiven in der Gesellschaft heute höher geschätzt wird als vor 20 Jahren. «Dabei stellt sich die zentrale Forschungsfrage, ob die Hochsensitivität ein Phänomen ist, das auf immer mehr Menschen zutrifft», so Bertsch. «Aus dem Bereich der Bewusstseinsforschung gibt es Hinweise dazu. Es liegt auf der Hand, dass etwa Neandertaler vor 20’000 Jahren in einem rauen nacheiszeitlichen Klima robustere Wesensstrukturen besassen. Heute dringen Menschen mit einem reifen Bewusstsein in tiefere spirituelle und transzendente Strukturen des Bewusstseins vor und werden sensitiver.» Möglicherweise stehen wir mit der Forschung zur Hochsensitivität noch ganz am Anfang. Jedoch besteht kein Zweifel: Das Thema wird in Zukunft noch mehr an Aufmerksamkeit, aber vor allem an Wichtigkeit gewinnen.

 

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