Wer sich schon einmal über Sinn oder Unsinn dieses Serientitels gewundert hat: Gray’s Anatomy ist im US-amerikanischen Raum so etwas wie das Standardwerk für Anatomie. Grey’s Anatomy spielt auf eben dieses Lehrbuch an.
Obwohl sich dieses Wortspiel – fachsprachlich Allusion genannt – dem geneigten schweizerischen Serienjunkie vermutlich nicht erschliesst, erfreut sich die Serie um Meredith Grey und ihren Alltag am fiktiven «Seattle Grace Hospital» auch in deutschsprachigen Wohnzimmern seit 2008 in bisher 14 Staffeln ungebrochener Beliebtheit.
Netflix bietet seinen Zuschauern bei allen Serien an, den leidigen Vorspann zu überspringen. Auch im 14. Jahr würde ich dies bei Grey’s Anatomy als Sakrileg empfinden: die roten High Heels zwischen den OP-Schuhen, die Schere auf dem Instrumenten-Tisch, die zur Wimpernzange mutiert. Das Überblenden vom Schliessen des Reisverschlusses der sexy Robe ins Binden eines OP-Kittels, die tropfende Infusion, die das Martini-Glas füllt. Und für den, der es immer noch nicht verstandenen hat, die ineinander verschlungenen Beine auf dem OP-Tisch. Dazu noch die laszive Titelmusik … Chirurg müsste man sein!
Doch hier in diesem Mikrokosmos wird ständig mit der grossen Kelle angerührt: Im Zentrum der Handlung steht die junge Assistentin Meredith Grey, die zusammen mit ihren Kolleg(inn)en ihre Facharztausbildung in Chirurgie absolviert. Selbstverständlich sind Angehörige sämtlicher Minderheiten – so wie es sich im US-Fernsehen gehört – paritätisch vertreten.
Neben dem täglichen medizinischen Tohuwabohu, bei dem keine denkbare Katastrophe aus dem entsprechenden Filmgenre der letzten 20 Jahre ausgelassen wird, geht es vor allem um die menschlichen Beziehungen untereinander und über alle Hierarchiegrenzen hinweg. Affären, Scheidungen, Abtreibungen, Geschlechtskrankheiten, geheime Vorleben, die ans Tageslicht gelangen, Krebserkrankungen, Flugzeugabstürze, Schlaganfälle und homosexuelle Outings bilden den Rahmen für die Krankheiten, Unfälle und Schicksale der eingelieferten Patienten, bei denen es in aller Regel um Leben und Tod geht – mindestens.
Die Krankheitsbilder sind extrem gut recherchiert und häufig den Fussnoten medizinischer Lehrbücher entnommen. Was für ein Unterschied zu Machwerken aus deutscher Feder: In diesen macht man sich nicht einmal die Mühe, das Ende des nicht bis in den Rachen reichenden Beatmungsschlauches zu verstecken.
Wer einmal die an Panik reichende Hektik amerikanischer Notfall-Ambulanzen erlebt hat, weiss, wovon ich rede: fliegende Türen, Alarm-gebende Nulllinien-EKGs, krampfende Patienten, denen die Axt noch im Kopf oder die Zaunlatte in der Schulter steckt. Dazwischen hektisch umher stürmendes Personal, das sich auch noch um die Angehörigen kümmern muss. Und diese wilde Mixtur wird angereichert mit realistischen (realen?) OP-Szenen, die die Fernsehzuschauer ebenso lüstern konsumieren wie eine Fahrt durch die Geisterbahn.
So viel Pech, wie die Protagonisten in Grey’s Anatomy haben, geht auf keine Kuhhaut. Aber schliesslich geht es nicht um Realitätsbezug, sondern darum, uns Zuschauer Woche für Woche vor den Bildschirm zu locken. Und das – zu Recht – mit Erfolg. Mit etwas Glück bekommt auch noch der ein oder andere Lieblingscharakter eine eigene Serie, so bereits geschehen bei «Private Practice» und «Seattle Firefighters – Die jungen Helden». Dann ist noch an einem weiteren Fernsehabend beste Unterhaltung garantiert.