Gewichtsprobleme: zu viel oder zu wenig?

Von Binge Eating und Körperidealen

Gewichtsprobleme: alte Personenwaage vor einer grünen Wand

Spoiler

  • Werbung und Social Media idealisieren einen Körper, der aus medizinischer Sicht untergewichtig ist.
  • 60 bis 70 Prozent der Mädchen sind mit ihrem Gewicht unzufrieden.
  • Emotional Eating beschreibt ein Essverhalten, bei dem gegessen wird, um sich besser zu fühlen. Binge Eating hingegen exzessive Essanfälle.

Übergewicht gehört heute zu den häufigsten Ursachen körperlicher und seelischer Leiden in der westlichen Welt, heisst es auf der Webseite des Kompetenzzentrums für Essstörungen und Adipositas in Zürich. Dabei kann gerade die übermässige Sorge um die exakt richtige Zahl auf der Waage zu Gewichtsproblemen, Adipositas, Untergewicht und Essstörungen führen, betont Dr. phil. Erika Toman, Leiterin des Zentrums. «Wichtiger ist das individuelle Wohlfühlgewicht. Doch der ‹Visual brainwash› unserer Zeit gibt ein viel tieferes Gewicht vor, als es für die meisten Menschen passend wäre.»

Noch vor 20 Jahren lag ein gesunder BMI (Body-Mass-Index) zwischen 20 und 27. Dann wurde er heruntergeschraubt auf 18,5 bis 25 als Normalgewicht. «Eine 35-jährige Frau mit einem BMI von 24 fühlt sich in unserer Gesellschaft schon dick», beschreibt Dr. Toman. «Sie beginnt mit Diäten und restriktivem Essen, was schnell das gesunde Hunger-Sättigungsgefühl stört. Dies ist ein typischer Einstieg in Gewichtsprobleme. Langfristig kann das sowohl zu Übergewicht als auch zu einer Essstörung mit Untergewicht führen.»

Body Positivity oder Gewichtsprobleme?

Im Idealfall regelt das natürliche Hunger-Sättigungsgefühl, wie viel wir essen. «Der Körper weiss gut, wann er hungrig ist, wann satt und wann er sich bewegen will», sagt Dr. Toman. Wir sollten ihm zuhören und seinen Signalen mehr Glauben schenken als den Bildern und Dogmen der Aussenwelt. Führt die Bewegung der Body Positivity dazu, dass wir wieder entspannter mit dem Thema Gewicht umgehen? Oder lenkt sie den Fokus noch mehr auf Kilos und Figuren? Dr. Toman findet es gut, die Diversität von Körpern aufzuzeigen, gibt aber zu bedenken, dass der Trend junge Menschen auch verführt, sich selbst über ihre Gewichtsprobleme zu belügen: «Wenn jemand sagt, ich bin super übergewichtig und stolz darauf, ist das gefährlich. Es gibt keinen Grund, stolz auf etwas zu sein, was einen krank macht.»

Idealisiertes Untergewicht

Ein BMI von 30 und mehr gilt als Adipositas und ist kein gesundes Gewicht mehr. Allerdings spricht man heute schon von Übergewicht, wenn es klinisch gesehen noch gar keins ist, erklärt die Expertin. Durch Social Media ist es normal geworden, dass Körper zur Schau gestellt werden. «Unser Selbstwert ist eng an einen schlanken bis untergewichtigen Körper geknüpft», sagt Dr. Toman. Sie weist auf Auswertungen hin, die zeigen, dass unter Jugendlichen ein Gewicht idealisiert wird, das aus klinischer Sicht Untergewicht ist.

Emotional und Binge Eating – Zeichen von Gewichtsproblemen

Wird nicht aus Hunger gegessen, sondern um ein negatives Gefühl auszuhalten oder sich schnell besser zu fühlen, spricht man vom Emotional Eating. Binge Eating beschreibt exzessive Essanfälle. Ein Drittel aller Menschen mit Gewichtsproblemen leidet daran. Auslöser, so Dr. Toman, sind meist Trigger von aussen, etwa Stress. Betroffenen hilft es, sich selbst zu beobachten: Was war da los? Wieso habe ich so viel gegessen? Welches Gefühl war da? Psychologen und Therapeuten, die auf Essstörungen spezialisiert sind, helfen, das Verhalten wieder umzutrainieren. Leider ist es derzeit schwierig, jemanden zu finden, der Termine frei hat. Gute erste Anlaufstellen können auch der Hausarzt, eine Ernährungsberatung, ein spezialisierter Coach oder die Gruppe «Overeaters Anonymous» sein.

Gewichtsprobleme im unteren Bereich: zu wenig?

In der Schweiz sind bis zu vier Prozent der Jugendlichen von einer Essstörung mit Untergewicht betroffen. Diese Störungen treffen vor allem Frauen. So sind 90 Prozent aller an Magersucht Erkrankten weiblich. Vier bis zehn Prozent der jungen Frauen leiden irgendwann in ihrem Leben an Bulimie, der Ess-Brech-Sucht. Doch auch bei Männern kommt dieses Phänomen heute häufiger vor. Studien zeigen, dass 60 bis 70 Prozent der Mädchen und 40 bis 50 Prozent der Jungen unzufrieden sind mit ihrem Gewicht. «Zwischen dem gestörten Essverhalten und den Essstörungen gibt es alle möglichen Übergänge», erklärt Dr. Toman.

Der Körper leidet an Hunger

Das Hungern und die Unterversorgung mit Nährstoffen führen bei Anorexie, der Magersucht, dazu, dass sich bei Frauen der Zyklus einstellt. «Betroffene frieren, leiden an brüchigen Nägeln und Haaren, an schlechtem Schlaf, Konzentrationsstörungen und Unruhe», erklärt Dr. Toman die körperlichen Folgen. «Sie beschreiben oft, dass sich ihre Welt zu 90 bis 100 Prozent darum dreht, was sie essen und wie ihr Gewicht ist. Viele haben kein Sozialleben mehr, da sie auf keinen Fall in Gesellschaft essen möchten.» Für Eltern und Angehörige ist der Gewichtsverlust ein erstes Zeichen, aber auch gehäufte Aussagen wie: «Ich habe keinen Hunger. Ich habe schon gegessen», sollten hellhörig machen.

Hilfe bei Gewichtsproblemen: schwieriger Rückweg

Die Expertin rät Freunden und Eltern, ihre Wahrnehmung mitzuteilen, ohne konfrontativ, besserwisserisch oder vorwurfsvoll zu sein. Wer früh Hilfe für seine Gewichtsprobleme in Anspruch nimmt, hat die besten Chancen auf Heilung. «Manchmal rutscht man in eine schlechte Gewohnheit hinein. Durch Wahrnehmung kann man diese wieder ablegen. Oft helfen schon ein paar Gespräche mit einem Therapeuten, der Erfahrung auf dem Gebiet hat, manchmal braucht es eine lange Begleitung», so Dr. Toman. Ausser bei akuter Lebensgefahr darf nie gegen den Willen der Betroffenen behandelt werden. Man muss immer mit dem Teil der Erkrankten in Kontakt treten, der etwas gegen die Essstörung tun will.

Essstörung? Zwei Fragen geben Aufschluss

  1. Wie viel Zeit und Energie des freien Tages gehen in das Thema Figur, was esse ich und was nicht? Bin ich zu dick oder zu dünn? 10 bis 20 Prozent sind normal. 30 bis 70 Prozent nähern sich einem gestörten Essverhalten. Ab 80 Prozent handelt es sich meist um eine Essstörung.
  2. Stört das Thema Essen und Figur meine Genussfähigkeit, meine Beziehungs- oder Arbeitsfähigkeit?
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