Freizeit gestalten: Kinder brauchen mehr echte Freizeit

Remo Largo über Kinder und unnötigen Stress

Freizeit gestalten: Kinder sitzen nebeneinander auf einer Wiese
Die Freizeit gut zu gestalten, ist wichtig. Eigentlich wissen wir, dass uns ohne Entspannung der Leistungsdruck und Stress nicht guttun. Wieso übertragen wir ihn auf unsere Kinder?

Das ist eine gute Frage und leider ein weit verbreitetes Phänomen. In Japan hat die Regierung kürzlich in einem Bericht veröffentlicht, dass 120`000 Kinder nicht mehr zur Schule gehen. Wegen Burnout. Bei uns ist das ein Tabu, aber ich kenne viele solcher Kinder. Statt regelmässig ausgleichende Freizeit zu gestalten, stehen sie unter Dauerstress. Wie bei Erwachsenen hat die chronische Überforderung Folgen.

Wie kommt es zu der Überforderung?

Das grösste Problem sind die Eltern. Wenn das Kind Tag für Tag erlebt, dass Eltern unter Leistungsdruck stehen und dass Leistung ihnen enorm wichtig ist, übernimmt es diesen Wert.

Wieso stehen so viele Erwachsene unter Druck?

Die existentiellen Ängste sind grösser, als wir vermuten. Obwohl es absurd ist, gerade in einer Wohlstandsgesellschaft. Aber die Digitalisierung der Wirtschaft und Jobverluste führen dazu, dass die Menschen spüren, dass es mit dem Wohlstand schlechter wird.

Etliche Schweizer Sechstklässler haben gerade einen monatelangen Lernmarathon für die Aufnahme aufs Gymnasium hinter sich. Freizeit, das Gestalten und Ausleben von Hobbys: Fehlanzeige.

Ich finde die Hysterie um die Gymnasialvorbereitung absurd. Die Kinder werden in Vorbereitungskurse und Lerncoachings geschickt, dabei weiss man: Sie werden dadurch nicht klüger. Sie lernen lediglich Lernstrategien.

Wie können Eltern diese Phase denn sinnvoll unterstützen?

Die Frage ist, ob das überhaupt Sinn macht. Eltern sollten etwas entspannter sein. Es gibt eine Studie, die zeigt, dass Kinder, die den zweiten Bildungsweg gehen, später mehr verdienen, zufriedener und erfolgreicher sind. Wieso? Weil sie schon älter sind und die Entscheidung für das Gymnasium bewusst für sich treffen und es dann wirklich wollen.

Waren Sie auf dem Gymnasium?

Als ich in der sechste Klasse war, hat mein Vater verhindert, dass ich aufs Gymnasium gehe. Er wollte, dass ich seine Mechaniker-Werkstatt übernehme. Als später mein jüngerer Bruder verkündete, dass er diese übernehmen wolle, fühlte ich mich frei. Da konnte ich meinen Weg gehen und das hat bei mir eine Menge Energie fürs Lernen mobilisiert.

Ein Sechstklässler wird die Entscheidung «Gymi ja oder nein» hauptsächlich aufgrund seiner Kollegen treffen: Geht mein Freund auch ans Gymnasium?

Was ist eine gute Entscheidungsgrundlage?

Ein offenes Gespräch mit dem Lehrer. Er kann am besten einschätzen, ob das Kind fit und bereit ist.

Was sind klare Zeichen, dass ein Schulkind überfordert ist und seine Freizeit anders gestalten sollte?

Wenn ein Kind über Kopf- oder Bauchschmerzen klagt, nur noch lernt oder weniger Lebensfreude hat, wenn es schlecht schläft oder keinen Appetit hat, würde ich hellhörig werden.

Brauchen Kinder mehr Freizeit? Oder gestalten wir die verfügbare Freizeit falsch?

Sie brauchen richtige Freizeit. Heute gibt es zwei Kategorien: Die Freizeit, die von Eltern organisiert ist und die wirkliche. Als ich klein war, hatte ich mindestens zwei Nachmittage pro Woche, an denen ich mittags das Haus verliess, um sechs Uhr zurückkam und dazwischen völlig unbetreut war. Das war fantastisch.

Es ist problematisch, dass es diese Zeiten kaum noch gibt. Ich fürchte, dass die soziale Kompetenz unserer Kinder darunter leidet – und das auch noch, wenn sie erwachsen sind. Sozial kompetent wird man, wenn man als Kind lernt, sich mit Gleichaltrigen auseinander zu setzen.

Dann finden Sie es in Ordnung, wenn ein Kind weder zum Fussball noch zum Ballett möchte und auch kein Instrument lernen will? Stattdessen soll es die Freizeit gestalten, wie es diese für richtig hält?

Wenn es in der Freizeit spielt und raus geht, absolut. Wenn es aber nur zu Hause im Zimmer hockt und gamt, ist es das Schlechteste, was dem Kind passieren kann.

Also die Freizeit frei gestalten und dennoch etwas lenken: Was können Eltern gegen zu viel Gamen tun?

Zusehen, dass ihr Kind freie Zeit mit anderen Kindern verbringt. Das ist aufwendig für die Erwachsenen. Es ist viel einfacher, das Kind im Ballett anzumelden.

Wie können Eltern Kindern in Prüfungsphasen helfen?

Der Ansatz «wie helfe ich meinem Kind, möglichst erfolgreich zu sein» ist eine Falle. Eltern sollte den Fokus mehr auf «was macht mein Kind sonst noch gern» legen.

Wieso?

Neuseeländische Forscher haben Kriterien für Lernerfolge untersucht und als wichtigsten Faktor gute, tragfähige Beziehungen ermittelt: zu den Eltern, zu Kindern und zu den Lehrern. Das ist ausschlaggebender als stundenlanges Pauken.

Freizeit gut gestalten und mit dem Lernen in Balance bringen: Wie sieht gesundes Lernen aus?

Es ist ein Mythos, was wir erwarten: dass verschiedene Kinder im gleichen Alter auch das gleiche können und leisten sollen. Die Forschung weiss, dass das definitiv nicht so ist. Für das Kind ist das eine Katastrophe. Jedes Kind will lernen. Aber selbstbestimmt. Seinem Tempo und seinem ganz individuellen Entwicklungsstand angemessen. Aber das lassen wir nicht zu. Die Kinder sind fremdbestimmt von Eltern und Schule.

Dann sollten Eltern also ganz entspannt bleiben, wenn ihr Kind nicht auf dem gleichen Stand ist wie Mitschüler?

Ja. Das Wichtigste ist doch, dass das Kind sich zu einem jungen Erwachsenen mit gutem Selbstwertgefühl und einer guten Selbstwirksamkeit entwickelt. Dazu muss man als Kind die Erfahrung gemacht haben: Es ist gut und ausreichend, was ich kann, und ich kann in der Gesellschaft bestehen.

Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Largo.
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