Einfach umdenken und einen Neustart wagen?

Psychologin Verena Kast über eine unkontrollierbare Zeit

Hände
Normalerweise planen wir Reisen, organisieren Feiern, stecken uns Ziele für die Zukunft. Seit über einem Jahr ist kaum mehr etwas planbar. Was macht das mit den Menschen?

Es macht uns nervös. Wir möchten in die Zukunft planen, aber da ist eine Bremse von aussen. Je länger die anhält, desto mehr Wünsche kommen auf. Ich selbst würde gerne mal wieder ins Theater gehen oder auf ein Konzert. Oder in die Stadt, ohne darauf achten zu müssen, Menschenmassen zu meiden. Im Moment sind viele wie geladen. Ich finde, das ist ein treffender Ausdruck: Die Batterie ist geladen, man möchte loslegen, aber ein Neustart ist nicht möglich. Das macht uns unleidig, irritiert und gewisse Menschen auch ärgerlich.

Sie sagen, im Moment sind viele Menschen aggressiv.

Ja, aber im Grunde haben wir Angst. Wir können dieses Virus, mit dem wir leben, nicht kontrollieren. Es ist unheimlich. Und es geht einem ans Leben. Angst wehrt der Mensch oft mit Ärger ab, denn Angst ist unangenehm. Wir haben zwei Möglichkeiten: fliehen oder angreifen. Also im Bett bleiben oder jemanden attackieren. Statt sich zurückzuziehen oder mit Aggression zu reagieren, wäre es sinnvoll, sich die Angst einzugestehen.

Was hilft gegen starke Zukunftsangst?

Genau hinzuschauen. Oft spürt man nur eine generelle Angst. Stellt man sie sich klar vor, wird sie präziser. Man erkennt zum Beispiel, dass es um die Sorge geht, beruflich nicht mehr auf die Beine zu kommen. Je klarer, desto besser kann man etwas dagegen tun. Wenn man nur diffus spürt, ich bin voller Angst, kann man nichts tun.

Geht man einer diffusen Angst weiter und weiter auf den Grund, steht da nicht oft die Angst vor dem Tod?

Ja. Diese Angst kann man schlecht zugeben. Es ist eine Herausforderung der Pandemie, dass uns klar wird, dass wir sterben müssen und das Leben nicht kontrollieren können. Das gibt aber dem Leben auch einen Wert.

Unsere Batterien sind also geladen und der Neustart klappt nicht. Wie geht man damit um?

Zunächst einmal: Niemand ist schuld, dass wir das Geladensein gerade nicht loswerden. Das ist Schicksal. Es hilft nicht, der Politik oder der Wissenschaft die Schuld zu geben.

Es ist wichtig, sich klar zu machen: Es ist gerade eine Herausforderung, vor der die gesamte Menschheit steht. Das ist eigentlich angenehmer, als nur als Einzelner von etwas betroffen zu sein. Geladensein heisst auch, dass dort Energie und Ideen sind. Das ist etwas Positives.

Wie können wir unsere Ideen sinnvoll umsetzten für einen Neustart?

Ich finde es interessant, wie viele Start-ups jetzt in der Corona-Zeit entstanden sind. Eigentlich absurd, aber es zeigt, wie Interessen Menschen antreiben. Wer jetzt viele Ideen in sich hat, die er nicht realisieren kann, sollte sie aufschreiben. Damit man sie bloss nicht vergisst.

Um besser mit der aktuellen Situation umzugehen, können wir unsere Vorstellungskraft nutzen: Wir können uns die Vergangenheit zurückrufen und uns die Zukunft vorstellen. Es nährt ungemein, sich jetzt gute Erfahrungen aus der Vergangenheit wieder ins Gefühl zu holen. So kann man planen und sich ausmalen, wie es in Zukunft sein könnte.

Nehmen wir als Beispiel eine schöne Tour am Meer, die jemand einmal gemacht hat. Man kann das Gefühl wieder aktivieren – den Duft des Meeres, den Wind – und sich freuen auf ein nächstes Mal.

Also die Zeit nutzen, um uns für die Zukunft auszurichten?

Ja. Es geht gerade nicht vorwärts. Aber es kann eine Neuausrichtung stattfinden. Im Moment nehmen zum Beispiel viele Menschen ihre Gefühle wieder wahr. Wir haben sonst so viel Ablenkung. Die ist gerade weg. Wir sind zurückgeworfen auf Fragen wie: Was geht in mir vor? Was geht in meinen Beziehungen vor? Kann ich etwas verändern?

Viele haben Wichtiges verloren, etwa der Job oder eine Beziehung. Sie müssen umdenken. Was hilft beim Neustart?

Es kommt darauf an, wie viel man verloren hat. Wenn es etwas ist, das für uns einen grossen Wert hatte, braucht es Trauer. Anfangs sind da viele und schwierige Gefühle. Die meisten Menschen trauern, indem sie intensiv wahrnehmen, was sie gehabt haben. Anschliessend sehen sie, dass sie davon etwas mitnehmen können. Wenn wir an den Punkt kommen, zu akzeptieren, dass da etwas Wichtiges verloren gegangen ist, richtet sich unsere Psyche fast von selbst auf.

Und dann?

Dann geht es darum, Schritt für Schritt zu tun. Wir können nicht planen, nur den nächsten Schritt machen. Wichtig ist, im Auge zu behalten, wo die Interessen hingehen. Was ist meine Sehnsucht? Und auf was kann ich ein bisschen Vorfreude haben?

Unsere Interessen sind wichtige Wegweiser. Viele haben in der Zeit zwischen 13 und 18 Jahren ganz ausgeprägte Interessen gehabt. Erwachsenen gehen diese zwischendurch verloren. Es hilft, sich zu erinnern: Was hat mich beflügelt? Und nicht vergessen: Wer neue Schritte macht, kann auch mal hinfallen. Das ist normal.

Viele hadern damit, dass ein Neustart gerade nicht möglich ist.

Wir alle verlieren im Moment Lebenszeit. Ich selbst bin 78 Jahre alt. Da bleibt nicht mehr so viel Lebenszeit, aber die Zeit jetzt geht ja nicht verloren. Ich kann sie anders füllen, als ich es mir zunächst vorgestellt habe.

Wie gehen Sie damit um?

Ich bin eine Frau, die Bücher schreibt und Artikel. Das geht immer. Meine Vorlesungen sind jetzt online, was einerseits mühsam ist. Andererseits gebe ich jetzt Seminare, an denen Menschen aus der ganzen Welt teilnehmen. Das hat etwas ungeheuer Schönes. Es geht sehr vieles, wenn wir mal aufhören zu denken, dass es nicht geht.

Und neben der Arbeit? Haben Sie da Neues für sich entdeckt?

Ich war schon immer gern in der Natur und bewege mich gern. Aber meinen Wald habe ich noch nie so genau angeschaut wie im letzten Jahr. Ich pfeife mit den Vögeln.

Was fehlt Ihnen besonders?

Dass man Menschen nicht ohne Hintergedanken umarmen kann. Und ich finde es ganz schlimm, dass man sein Gegenüber nicht primär als Quelle der Freude, sondern als Quelle der Ansteckung anschaut.

Vielen Dank für das Gespräch.
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