Eine Sehschwäche bei Kindern behindert die Entwicklung

Unbehandelte Sehfehler beeinträchtigen den Lernerfolg und die Gesundheit

Spoiler

  • Die Vorsorge-Untersuchungen finden in zu grossen Abständen statt, als dass durch sie verlässlich Sehschwächen bei Kindern ermittelt werden könnten.
  • Fehlsichtige Kinder sind in ihrer geistigen und körperlichen Entwicklung oftmals gehemmt. Zukunftschancen können verbaut werden.
  • Einfache Hilfsmittel wie etwa die Brille bieten ein volles Sehvermögen und gewährleisten eine normale Entwicklung des Auges.

Wenn Kinder sich mit dem ersten Lesen und Schreiben schwertun, wenn sie mit dem Schulstoff hinterher bleiben, ja selbst wenn sie überdreht oder gar aggressiv auftreten, steckt nicht selten eine unentdeckte Sehschwäche dahinter. Längst sind verschiedene Formen der Sehschwäche bei Kindern keine Randerscheinungen mehr: Nahezu jedes fünfte Kind – immerhin 18 Prozent – kann nicht richtig sehen, Tendenz steigend.

Nach einer aktuellen Studie leiden zehn Prozent der Vorschulkindern unter einer korrekturbedürftigen Weitsichtigkeit (Hyperopie), stellt Véronique Glauser, Präsidentin von Swiss Orthoptics, heraus. «Im Laufe der Schulzeit wird jedoch die Kurzsichtigkeit immer verbreiteter.»

Unzureichende Vorsorgeuntersuchungen

Warum die Beeinträchtigung der Sehleistung im Kindesalter oftmals unbemerkt bleibt, liegt auf der Hand: Bei den in der Schweiz, in Deutschland und Österreich üblichen Vorsorgeuntersuchungen wird die Sehleistung des Kindes in zu grossen Abständen und zu spät kontrolliert, als dass Fehlentwicklungen des kindlichen Auges verlässlich und frühzeitig genug erkannt würden.

Daneben bemerken die betroffenen Kinder ihr eingeschränktes Sehvermögen selbst häufig nicht. Weil sich beispielsweise die Kurzsichtigkeit bei Kindern (Myopie) allmählich verstärken kann und nicht schmerzt, gibt es für Kinder keinen Anlass zur Beschwerde, schlimmer noch: Mehr oder weniger bewusst wenden sie Verhaltensmuster an, mit denen die nachlassende Sehschärfe kompensiert werden soll. Sie schreiben vom Nachbarn ab, was sie an der Tafel nicht erkennen können, sie lesen und schreiben mit der Nase und krabbeln in das Fernsehgerät, immer bemüht, den Abstand zum fixierten Objekt zu verringern. Aufgaben, die eine gute Feinmotorik erfordern, meiden diese Kinder, die mit dem Zusammenkneifen der Augen und häufigem Blinzeln die mangelnde Sehschärfe auszugleichen versuchen.

Sehschwäche bei Kindern oft fehlgedeutet

Dieses Verhalten kann gravierende Auswirkungen auf den Lernerfolg der Kinder haben. So werden an die Tafel geschriebene Buchstaben und Zahlen nicht erkannt und verwechselt – vor allem, wenn die sehschwachen Kinder wie alle coolen Schüler in den letzten Reihen des Klassenraums sitzen. Fachleute bezeichnen dieses Verhalten als «Tafelflucht». Die Lese- und Rechenkompetenz – Grundlagen jeden Lernerfolgs – werden auf diese Weise nachhaltig beeinträchtigt.

Und mehr noch: Ein Kind, das aus dem näheren Schulheft des Nachbarn abschreibt und den Nebenmann nach dem unlesbaren Tafelbild befragt, kommt langsamer voran und steht früher oder später unter Zeitmangel und Lernstress. Der abschreibende und nachfragende Schüler wirkt zudem unkonzentriert, schwatzhaft und im schlimmsten Fall betrügerisch – und wird entsprechend häufig vom Lehrer in seinem Fehlverhalten zurechtgewiesen.

Gravierende körperliche Folgen

Neben der so kultivierten und manifestierten Unlust am Lernen kann eine Sehschwäche bei Kindern auch körperliche Folgen nach sich ziehen. Permanent überanstrengte Augen verursachen Kopfschmerzen, der Lernstress führt zu Müdigkeit und Erschöpfung. Balancestörungen und innere Unruhe, mangelnde Aufmerksamkeit und Belastbarkeit sowie ein auffälliges Sozialverhalten lassen sich auf eine unbehandelte Sehschwäche zurückführen.

Das betroffene Kind bleibt bei den in Schule und Freizeit gestellten Anforderungen zurück, ist in seiner geistigen wie körperlichen Entwicklung gehemmt und erzielt nur verminderte Lernerfolge. Frühzeitig werden so Bildungs- und Berufsperspektiven verbaut – was vermeidbar ist, denn Sehschwächen können recht einfach mit einer Sehhilfe ausgeglichen werden. Von operativen Eingriffen hingegen rät Frau Glauser ab, da die Entwicklung des Auges erst mit dem Erreichen des Erwachsenenalters abgeschlossen ist.

Die Orthoptistin empfiehlt stattdessen eine möglichst frühzeitige Vorsorge. Nach ihrer Erfahrung bleibt den meisten Grundschullehrern eine Sehschwäche ihrer Schüler nicht lange verborgen. Wesentlich häufiger werden Weit- und Kurzsichtigkeit im Vorschulalter nicht bemerkt. Bleibt ein sehschwaches Auge unbehandelt, kann das weitreichende Beeinträchtigungen und Erkrankungen wie etwa Grünen Star (Glaukom), Grauen Star (Katarakt), Netzhautveränderungen oder eine in ausgeprägter Form bis an Blindheit heranreichende Schwachsichtigkeit (Amblyopie) nach sich ziehen.

Kurzsichtigkeit weltweit auf dem Vormarsch

Warum aber nimmt die Kurzsichtigkeit bei Kindern während der Schulzeit zu? Die Ursachen hierfür sind nicht nur genetischer Art, sondern auch umweltbestimmt. Grundsätzlich wird das sich entwickelnde Auge zu häufig auf zu nahe Objekte gerichtet. Wenn Kinderaugen auf die Bildschirme von Computer, Fernseher, Smartphone und Co. schauen, muss sich ihre Linse enorm krümmen, um das nahe Geschehen zu erfassen. Häufig auf den Nahbereich fokussiert, erhält das Auge falsche, weil einseitige Wachstumsanreize und verlernt den scharfen Blick in die Ferne.

Der Brennpunkt von in das Auge fallenden Lichtstrahlen bildet sich nicht auf, sondern vor der Netzhaut ab, sodass weiter entfernte Objekte nur unscharf wahrgenommen werden können – eine Fehlentwicklung, die durch vermehrtes Stubenhocken noch verstärkt wird. Denn ausser Haus – beim Spaziergang, aber auch schon beim Fussballspiel im Hof – übt sich der Blick im Weitsehen. Zudem regt auf die Haut treffende Ultraviolettstrahlung, anders als künstliche Beleuchtung, die Produktion von Vorstufen von Vitamin D an und setzt Dopamin und andere Botenstoffe frei, die das Augenwachstum positiv beeinflussen.

Sehschwäche bei Kindern: voll im Trend

Doch der Trend geht genau in Richtung (spielerische und berufliche) Naharbeit am PC und vermehrten Aufenthalt im Kinderzimmer und Büro. Wie eine Studie der Universität Mainz von 2014 belegt, nimmt die Verbreitung und Stärke der Sehbeeinträchtigung mit der Dauer der Ausbildungszeit zu. Das Team um Prof. Dr. Norbert Pfeiffer und PD Dr. Alireza Mirshahi fand heraus, dass von den Studienteilnehmern ohne Berufsausbildung 24 Prozent, von den untersuchten Akademikern hingegen 53 Prozent kurzsichtig waren – Die Mainzer Studie weist vor allem Naharbeiten wie Buchlesen oder das Arbeiten am PC als Ursachen für die grassierende Sehschwäche aus.

Statistiken aus dem asiatischen Raum zeigen, wie verbreitet die Kurzsichtigkeit bereits ist: In China sind 50, in Taiwan sogar 84 Prozent der Jugendlichen sehschwach. Bereits im Jahr 2008 stellten Ärzte der südkoreanischen Armee fest, dass 96,5 Prozent der von ihnen gemusterten Männer kurzsichtig waren. Ähnlich schlecht steht es um die chinesischen Studenten: Nach von der Deutsch-Chinesischen Allgemeinen Zeitung im Juli 2011 veröffentlichten Zahlen können nur zehn Prozent der Akademiker aus dem Land der Mitte scharf sehen. Diese hohen Werte, die für Entwicklungs- und Schwellenländern vorliegen, erklärt Frau Glauser mit der hohen gesellschaftlichen Erwartungshaltung, die an die Jugendlichenherangetragen wird. Sie sollen den Bildungsaufstieg vollziehen – und halten sich immer mehr in geschlossenen (Lern)Zimmern fernab des gesundheitsfördernden Sonnenlichts auf.

Soziale Unterschiede auch in der Schweiz

Für die Schweiz liegen wesentlich niedrigere Zahlen vor. So sind laut dem Kindergesundheitsbericht der Stadt Bern von 2014 etwa sechs Prozent der Grundschulkinder sehbeeinträchtigt. Aus dem Bericht geht allerdings deutlich hervor, dass ein Zusammenhang zwischen mangelnder Sehschärfe und Bildungsgrad besteht: Kinder ungelernter Eltern – deren Zahl in Bern wie auch international zunimmt – sind demnach mehr als vier Mal so oft von ungenügender Sehschärfe betroffen als Kinder von Akademikern. «Das liegt an der Vorsorge», weiss Frau Glauser. «In Familien mit höherem Bildungsstand wird früher und auch besser vorgesorgt.» Die gerade unter Kindern aus sozial schwachen Familien verbreitete Sehschwäche verringert deren Bildungschancen und sorgt dafür, dass die soziale Schere immer mehr auseinander geht. Beeinträchtigte Sehschärfe stellt unter diesem Eindruck eine nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Herausforderung dar.

Facebook
Email
Twitter
LinkedIn