Krebs

Patientenkompetenz lernen ist gar nicht so schwer

Dr. Christa Baumann: «Da gehen Welten auf»

Patientenkompetenz_drei Freunde in der Natur
Frau Dr. Baumann, was macht einen kompetenten Patienten aus?

Grundsätzlich hat jeder Mensch – egal, ob er gerade Patient ist oder nicht – ein Bedürfnis, kompetent zu sein und Patientenkompetenz zu lernen. Jeder Mensch möchte die Kontrolle über seine Situation und eine gewisse Entscheidungsfreiheit haben.

Eine Krebs-Diagnose verunsichert stark und erfordert oft ein Neuorientierung und führt zu einer Suche nach einem Lebenssinn trotz der Krankheit. Gerade in dieser Situation möchte jeder selbstbestimmt bleiben. Patienten möchten wissen, wo sie stehen und wohin sie gehen, und dabei möchten sie ihre Kräfte gut einsetzen.

Oft begegnen wir der Vorstellung: Ein Patient ist kompetent, wenn er sehr viel Fachwissen hat. Das stimmt so nicht. Er ist dann kompetent, wenn er weiss, was ihm hilft.

Beeinflusst die Einstellung des Patienten die Heilung?

Ja, auf alle Fälle! Gerade wurde eine Studie von der «Boston University» bekannt, die zeigt, dass optimistische Menschen länger leben. In Bezug auf Menschen mit Krebserkrankungen gibt es zunehmend Studien, die zum Beispiel zeigen, dass Sport und Bewegung die Prognose und Therapieverträglichkeit verbessern können. Der Effekt ist bei verschiedenen Tumorarten nicht der gleiche. Damit zum Beispiel Sport und Bewegung langfristig in ein Leben integriert werden können, muss eine innere Grundvoraussetzung geschaffen werden. Die Lust «einen eigenen Beitrag zum besseren Verlauf zu leisten» muss vorhanden sein. Wenn aber leistungsorientiert unpersönliche Checklisten abgearbeitet werden, kann dies in ein onkologisches Burnout führen.

In einer Patientenkompetenz-Beratung ist es wichtig zu erfragen, wo sich ein Patient gerade befindet und wohin er möchte. Die Antworten sind höchst individuell und davon muss eine Patientenkompetenz-Beratung ausgehen.

Wie unterstützen Sie Patienten dabei, Patientenkompetenz zu lernen?

In der Patientenkompetenz-Beratung nutzen wir verschiedene Tools, um den Patienten ihre eigentlichen Bedürfnisse bewusst zu machen. Am Ende eines Patientenkompetenz-Gesprächs legt jeder Patient selbst fest, was er will – und was nicht. Das Nein-Sagen ist genauso wichtig wie die Entscheidung für einen Weg. Oft wird dabei «weniger» wichtiger.

Viele Patienten erleben eine Befreiung von dem Leistungsdruck, alle möglichen Angebote zu nutzen. Sie werden darin bestärkt, an der für sie richtigen Stelle aktiv zu werden.

Was können Patienten tun, um Patientenkompetenz zu lernen?

Sie können sich selbst fragen, was ihre Ziele sind und wie sie diese erreichen können. Wichtig ist, dass ihnen die Entscheidungsfreiheit bleibt. Wir unterstützen nur mit einer geleiteten Beratung, nicht aber durch eine Lenkung.

Betroffene sollten ihre Identität im Hier und Jetzt suchen, nicht in der Prognose und der Heilung. Es reicht, zu wissen: «Ich bin auf einem guten Weg.» Wer sich zu sehr auf das Ziel konzentriert, landet wieder bei der Checkliste und gerät unter Druck.

Wie gehen Sie mit Patienten um, die nicht an ihre Selbstheilungskräfte glauben?

Ich bin Schulmedizinerin durch und durch! Ich glaube an Studien und Fakten – und gerade deshalb kann ich den Einfluss der Einstellung vertreten. Die allermeisten Patienten, die zu mir kommen, teilen diese Haltung. Nur sehr selten lerne ich Patienten kennen, die gar keinen Zugang zur Selbstheilung haben.

Tun sich Männer schwerer damit, ihre inneren Kräfte zu aktivieren?

Überhaupt nicht. Bei vielen Männern sorgt die Diagnose für einen wahren Aktionismus. Zwar nähern sie sich dem Thema Selbstheilung weniger von der esoterischen Seite. Aber wir fördern in erster Linie Selbstständigkeit – und das wollen Männer auch. Viele beginnen, sich und ihr Leben grundlegend zu hinterfragen und entsprechend neue Wege einzuschlagen: Sie setzen unglaublich viele innere Kräfte frei.

Wie können Angehörige Krebs-Betroffenen helfen?

Darauf gibt es keine allgemeine Antwort, denn jede Beziehung sieht anders aus. Wenn ich Frauen frage, wer unter der Diagnose am meisten leidet, weinen viele und sagen: «Mein Mann.»

Die kompetente Patientin kann sagen, was sie will und Unterstützung einfordern. Sehr oft sind Männer hilflos, weil sie nicht wissen, wie sie sich ihrer Partnerin gegenüber verhalten sollen. Mein Tipp: Sie sollten einfach direkt fragen, was die Partnerin braucht! Was sie braucht, können ganz kleine Dinge sein: den Geschirrspüler ausräumen, am Nachmittag ein paar Stunden Ruhe …

Einige Frauen sagen mir auch, dass ihr Mann viel zu viel macht. Auch das sollte offen angesprochen werden. Die Beziehung rückt oft in ein viel positiveres Licht und entspannt sich oft sehr, wenn die eigene Hilflosigkeit in der Situation erst einmal angesprochen wird und durch die passende und abgesprochene Hilfe gelindert wird.

Werden Patientenkompetenz und Selbstheilung im Medizinstudium stark genug gewichtet?

Nein, leider noch nicht. Insgesamt wird noch zu wenig daran geglaubt. Neurophysiologie, Placebo – Diese Themen werden in der medizinischen Ausbildung noch viel zu wenig platziert.

Welchen Rat würden Sie jungen Medizinstudenten auf den Weg geben?

Ich würde den Studenten raten, sich bei jedem Patientenkontakt mit dem ganzen Menschen auseinanderzusetzen und sehr neugierig zu sein. Das muss gar nicht kompliziert sein. Es kann zum Beispiel heissen, dass der Student einfach fragt: «Was hilft Ihnen in Ihrer Situation?» Da kommen Antworten, da gehen Welten auf. Patientenkompetenz lernen ist eigentlich gar nicht so schwer, wenn man es erst einmal versucht.

Vielen Dank für das Gespräch.
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